• Juli 2022

ZWEI ENGEL

Das weiche Licht, welches durch das Blätterwerk des Waldes fällt, ist von einer eigenen Schönheit. Es war das Erste, was ich wahrnahm, als ich meine Augen öffnete. Und dann erschienen unscharf zwei Frauengesichter. Blondes Haar umrankte das eine, schwarzes das andere. Sie sprachen in einer Sprache, die ich nicht verstand. Sie hielten je einen Hirtenstab und trugen Flügel auf den Rücken. Zwei Engel! Ich musste im Himmel sein. Ich weiss nicht, ob ich lächelte, aber ich denke schon, denn was sollte man sonst tun, wenn man Engeln begegnet? Aber dann sah ich, dass die Engel grobe Wanderschuhe trugen. Und es waren keine Hirtenstäbe, sondern Leki-Teleskopwanderstöcke, die Flügel Rucksäcke. Noch begriff ich nicht.

Ich mag mich nicht erinnern, jemals zuvor bewusstlos gewesen zu sein. Das Erste, was ich dachte, als ich auf dem Waldweg liegend wieder zu mir kam, war, dass ich nichts weiss. Ich war wach, aber ich hatte keine Ahnung, wer ich bin oder wo ich war – ein äusserst seltsames Gefühl der Leere, in der sich sogleich leise Panik ausbreitete. Dann kamen die Erinnerungen zurück, Stück für Stück, eins fügte sich zum anderen. Ich wusste wieder, dass ich Kinder habe, und zwar zwei, aber wie hiessen sie? Die vermeintlichen Engel stellten sich als zwei russische Wanderinnen heraus, die mich gefunden hatten. Sie sprachen ruhig, Englisch oder Deutsch, ich weiss es nicht mehr, aber jedenfalls mit Akzent. Dann waren plötzlich die Namen der Kinder wieder da und damit ein Gefühl der Erleichterung. Mir fielen in der Folge all die Dinge ein, die zusammen mein Leben sind. Als würde das System wieder hochgefahren; ganz so wie bei den Androiden in der TV-Serie «Westworld».

Meine Brille lag nicht weit entfernt, sie war noch ganz. Ebenso mein Mountainbike, es hatte nur Kratzer abbekommen. Bald sass ich, bald stand ich, zu Fuss ging es blutend aus dem Wald, geleitet von den zwei Frauen mit den Teleskopwanderstöcken, Evgenia hiess die eine, Jenya die andere, und ich merkte: So ein Mountainbike ist auch ein super Rollator, vollgefedert und mit Stollenpneus.

Im Spital wurde schnell klar, dass ich gehabt hatte, was man immer gut gebrauchen kann, am besten nicht zu knapp: Glück im Unglück. Es war nichts gebrochen, auch der Schädel samt Inhalt war okay (vielen Dank an dieser Stelle an die schwedische Firma POC Sports, die wirklich hervorragende Helme herstellt!). Mir fehlte bloss ein bisschen Haut, und die Rippen waren tüchtig gequetscht. So wurde ich frisch wundversorgt «zurück in die Häuslichkeit entlassen», wie es in der schönen Sprache des Spitals heisst, zusammen mit einem Rezept für einen opulenten Schmerzmittel-Dreigänger.

Die Erinnerung an den Unfallhergang kam bis anhin nicht zurück. Aber darauf kann ich gerne verzichten. Was ich weiss: Die nächsten Tage werde ich im Bett liegen oder mich mit der Grazie eines Dreizehenfaultiers aus diesem erheben – und hoffen, dass keine allergische Niesattacke mich ereilt oder eine zünftige Verstopfung, denn diese Dinge sind in Kombination mit den lädierten und schmerzmarinierten Rippchen äusserst qualvoll.

Noch etwas tut höllisch weh: das Lachen. Denn Thoraxkontusion und Witz sind ein blödes Duo. Deshalb gilt es zwingend, Humor zu vermeiden – in diesen Zeiten eigentlich nicht so schwierig. Und schon surrt das Handy. Eine SMS. Sicherlich von Herzen kommende Genesungswünsche, denke ich. Tatsächlich schreibt ein Freund. Er schickt mir einen Witz von einem Totengräber und einer traurigen Witwe, und ich muss sagen, selten habe ich einen lustigeren gelesen.