Lieber Herr Gac
wie vom Himmel fiel etwas – plumps! – in den Staub der Strasse, direkt vor meine Füsse. Ich bückte mich. Es war eine Zeitung. Vieles kam gratis geflogen an jenem Tag Anfang Juli. Es war der Tag der fünften Etappe der Tour de France, die von Vittel hinauf zur Skistation La Planche des Belles Filles führte. Wir waren früh am Morgen aufgestanden und mit dem Auto nach Frankreich gereist, um die Tour einmal live zu sehen, hatten ein paar Dörfer entfernt parkiert und waren mit unseren Velos an die Strecke gefahren, postierten uns an einer Kreuzung in Vauvillers, einem Kaff in der Haute-Saône. Schon von weitem hörte man plärrende Lautsprecherstimmen, dröhnende Musik, hundert Hupen. Bald zog die Werbekarawane durch das Dorf.
Es gab Waschmittelmuster, Kappen von Kreditbanken, BIC-Kugelschreiber und Madeleines, die aus Autos geworfen wurden wie süsse Streubomben, Werbung für Sekundenkleber und Pommes Chips. Ich ergatterte bloss ein Säcklein Haribo – und eben «L’Équipe», die Sportzeitung. Als die Werbekarawane vorübergezogen war mit ihrem bizarren Enthusiasmus und der grellen Euphorie für die Warenwelt, da kehrte wieder Ruhe ein. Man schaute auf die Uhr, suchte Schatten, blätterte in der Zeitung. Bis die Rennfahrer kämen, würde es noch dauern. In «L’Équipe» fanden sich die komplette Rangliste der letzten Etappe sowie das Gesamtklassement. Und wissen Sie, wie der letztklassierte Fahrer beider Listen war? Sie, Olivier Le Gac!
Ich weiss, über Namen macht man keine Witze, denn für seinen Namen kann man nichts. Und ein jeder Name lässt sich zu einem Kalauer verwursten, so unverfänglich er auf den ersten Blick erscheinen mag, das hat eine jede und ein jeder von uns in der Primarschule schon erlebt. Aber Le Gac ist natürlich ein grossartiger Name, etwa für einen Eierhändler, für einen Geflügelzüchter – oder eben für einen Rennfahrer, der im Gesamtklassement den letzten Platz einnimmt.
Und dann kam ein flappendes Geräusch über das Dorf, die Leute zeigten in den Himmel, der TV-Helikopter erschien, man spürte Dringlichkeit, bog den Hals, und schon schossen Motorräder um den markanten Strassenknick, Autos tauchten auf mit blinkenden Lichtern, die Rennfahrer folgten, zuerst ein paar Ausreisser, dann das Feld, angeführt von der Startnummer 44, getragen vom grossen Stefan Küng.
Nach handgestoppten 17 Sekunden und 32 Hundertsteln – wusch-wusch-wusch – hatten alle 193 damals noch am Rennen beteiligten Fahrer das Dorf passiert, auch Oliver Le Gac. 17 Sekunden und 32 Hundertstel. Ich dachte: Selten hatte ich so viel in so kurzer Zeit gesehen. Die vierstündige Anfahrt hatte sich gelohnt.
Die Menschen auf dem Trottoir steckten die Hände wieder in die Hosensäcke, sie legten die Klappstühle zusammen, verschwanden in den Häusern, liessen die Rollläden herunter, und das Dorf verwandelte sich zurück in das, was es zuvor gewesen war: ein Kaff. Bloss das grüne Neonkreuz über dem Eingang der Apotheke blinkte weiter, ganz so, als zwinkere es verschwörerisch, wissend.
Schnell schwangen wir uns auf unsere Rennräder und strampelten über den grobporigen Asphalt der französischen Landstrassen wie die Irren im Windschatten des eben Erlebten. Ein paar Stunden später sassen wir wieder im Auto, fuhren heimwärts. Und als einer der Freunde fragte: «Ist hier nicht irgendwo das AKW Fessenheim?», da dachte ich gerade, dass der Kolumbianer Rigoberto Urán die Tour vielleicht gewinnen könnte. Aber der Tag und die Hitze des Nachmittags hatten mich versengt. Also gab ich keine Antwort zur Lage Fessenheims, sagte weder gicks noch gacks.
À bientôt
Max Küng
PS: Film zum Thema: «Vive le Tour», Regie: Louis Malle, Musik: Georges Delerue, 1962, 18 Minuten, erschienen auf DVD bei The Criterion Collection – oder zu sehen auf Youtube.