• November 2016

The Look of Love

Es war velotechnisch ein mieses Jahr, geprägt von kleinen Krankheiten und Beschwerden, inklusive Hundebiss (siehe weiter unten), sowie einer besonders lästigen Angelegenheit: Viel Arbeit. Ich kam nicht so oft aufs Velo, wie ich eigentlich wollte. Mein Freund Eivind im fernen Oslo oben hat dieses Jahr knapp 11'000 Kilometer geschafft. Das sind so ziemlich genau 9'000 mehr als ich. Aber immerhin reichte es noch für eine erste Tour mit meinem neuesten Rad, einem Look 695 Aerolight. Ich hab es gebraucht gekauft. Eben erst. Von einem Arzt. Als ich es besichtigen wollte, da sandte er mir eine SMS. Er sei im Spital. Am operieren. Ich solle einfach dort hin kommen. Also fuhr ich hin und bald stand ich vor dem OP und der Herr Doktor kam in Vollmontur. Das Look stand auch dort. Er erklärte es mir. Dann klingelte sein Telefon. Er sagte: "Ihr macht ihn auf? Okay. Ja, gut, gib ihm noch was Propofol." Dann hängte er auf. Es sei eine Blinddarm-OP, sagte er mir, und erklärte weiter das Look, währen die Operation lief. Ich musste das Look einfach kaufen. Und die erste Tour mit ihm ging durch sein neues Revier, hier auf dem Bild: Irgendwo zwischen Türlersee und Hausen am Albis.


Die Kolumne aus dem Sommer 2016:

Lieber Michel Pollentier

Heute sind sie ein pensionierter Pneuhändler im belgischen Seebadeort Nieuwpoort. 1977 aber waren sie Rennradprofi. Sie hatten den Giro d’Italia gewonnen und gewannen auch die Tour de Suisse. Ja, es muss in jenem Jahr gewesen sein, auf der dritten Etappe der Tour de Suisse, Möhlin - Olten, als ich ein achtjähriger Junge war und am 18. Juni in kurzen Hosen am Strassenrand stand, dick, kurzsichtig, das Gesicht ein Fragezeichen. Die Tour würde vorbei fahren, hatte es geheissen. Also ging ich runter zur Hauptstrasse und wartete. Ich wartete sicher eine Stunde. Der Werbetross lärmte vorbei. Man verteilte dies und das. Dann hiess es: „Sie kommen!“ Ich schwenkte das Rivella-Fähnli. Und dann kamen sie tatsächlich. Lieber Michel Pollentier, sie trugen das gelbe Trikot. Gesehen habe ich sie nicht. Das Feld, es war vorbei gerauscht, schneller als ein achtjähriger Bub schauen konnte. Ich fragte: Und jetzt? Es hiess: Das war es. Ich dachte: Aha. Ich hatte - wie es sich für ein Kind gehört - mehr erwartet. In jenem Moment aber, da war etwas mit mir geschehen.
Lieber Michel Pollentier, keine Ahnung, was sie am Montag dem 13. Juni dieses Jahres machten. Ich aber, ich stand wieder am Strassenrand des Dorfes, in dem ich aufgewachsen war. Nach neununddreissig Jahren fuhr dort wieder die Tour de Suisse hindurch auf dem Weg von Grosswangen nach Rheinfelden, es war wieder die dritte Etappe. Der Werbetross kam über den Berg, hupende Autos, Motorräder, plärrende Musik, aus Lautsprecher krächzten Speaker mit von stundenlangem Dauerreden strapazierter Dramatik in der Stimme, bald ein im Himmel kreisender Helikopter, der Töff mit der Fernsehkamera, „sie kommen!“ rief jemand, und dann schossen die Fahrer heran: einer! nach! dem anderen! wusch, wusch, wusch! Und dann war es wieder vorbei. Das einzige, was noch kam, das war der Besenwagen und dann der Regen.

Als ich wieder auf mein Rennvelo stieg und durch meine alte Heimat fuhr, die alten Dörfer, begleitet von pflaumigen Sprüchen von den Verkehr regelnden Typen in Leuchtwesten („he, muesch trampä! Die andäre si scho lang verbiii!“), da war jetzt, das Jahr 2016, und aber es war auch gleichzeitig 1977. Die Dinge von damals und die Dinge von heute, sie verschmolzen. Und ich wusste in jenem Moment, weshalb ich das Velofahren so sehr liebe: Weil es einen das erleben lässt, was man verloren geglaubt hat. Diese Leichtigkeit, die einem abhanden gekommen zu sein scheint, schleichend, als erzwungener Tribut an das Erwachsenendasein. Das, was auf der Strecke geblieben war: Die kindliche Unbeschwertheit. Das Fahrrad war damals das erste Fluchtvehikel. Wie schnell man im nächsten Dorf war! Unglaublich! Die Geschwindigkeit, die warme Sommerluft im Gesicht. Und ja, die Hügel waren steil. Aber - so erfuhr ich beruhigenderweise - sie sind es noch immer.

All das dachte ich, als ich im nun prasselnden Regen das nördlichste Oberbaselbiet verliess, durch das Fricktal und meine Kindheit fuhr, durch und durch nass, schnell, geduckt, hinauf, hinab, geradeaus, um Kurven, durch Wälder, über Land, vorbei an sich in Talsohlen dem Rhein entgegen schlängelnden Bächen, gleichzeitig beides war, ein mittelalterlicher Mann und ein kleiner Bub, bis in Zeiningen ein Hund über das Feld heran geprescht kam, sein hellbraunes Fell schüttelnd, und mir während der Fahrt seine Zähne ins Fleisch schlug, er in meinen saftigen Oberschenkel biss. Als ich fluchend die blutende Wunde betrachtete, kam ich rassig wieder in die Gegenwart zurück. Und der Hund, er hockte dort und schien zu lächeln. Die Frage war nur: Worüber und weshalb?

PS: So ein Seich, damals, 1978, während der Tour de France, als man sie erwischte, lieber Michel Pollentier, nachdem sie souverän die Etappe nach Alpe d’Huez gewonnen hatten und ins gelbe Trikot steigen konnten. Wie sie beim Dopingtest sauberen Fremd-Urin aus einem unter dem Trikot versteckten Kondom durch einen Plastikschlauch aus ihrem Hosenbein seichen wollten. Blöd, kam man dahinter. Oder wie sie später sagten: „Ja, ik heb fouten gemaakt.“

PPS: Song zur Kolumne: „Dogs Are Everywhere“ von The Pulp, 1986