LIEBER VELODIEB
Du hast mein schwarzes Stadtvelo geklaut, gestern, vor dem Kosmos, am Hinterteil der Europaallee in Zürich. Ich denke nicht, dass du derselbe Dieb bist, der vor zwanzig Jahren in Basel mein rotes Colnago-Rennvelo an der Ecke Hammer- und Spehrstrasse gestohlen hat, oder? Das rote Colnago-Rennvelo war mir sehr ans Herz gewachsen. Ich liebte es. Als es gestohlen wurde, da blutete mein Herz.
Ich weiss noch, dass ich dem damaligen Dieb einen Brief geschrieben habe. Um meine Trauer zu bewältigen. Es war eine Beschimpfung, die quer durch das Alphabet ging. Ich habe den Dieb als Achsellecker bezeichnet, als Alphornsauger, als Antimenschen, Backstreetboyssympathisanten, Barthaarkolumbus, Bedienungsanleitungsdurchleser, Beutelratte, Bibergesicht, Blödarsch, Bobo, Bongwassertrinker, als Charterfluglandungsklatscher, Coverbandmusiker, Darmamöbe, Dattelkönig, Depp, Dickarsch, Dödel, Dodel, Dodi, Doppeldepp, Dubelaff, Dummtröte, Eierkratzer, Eiskunstlaufgucker, Eiterbeule, Evolutionsbremse, Flötenschlumpf, Furbyficker, Furztüte, Fratzengulasch, Goretexjackenträger, Halbhirn, Idiot, Jeansbügler, Käsekrokette, Klappstuhl, Knilch, Krummbeiniger Hustensaftschmuggler, Lagerfeuergitarrist, Lammerzeugungsorgan, Minigolfspieler, Nussgipfel, Oberbazille, Perückenschaf, Pfeifenheini, Quasimodo, Rillenzigerrocker, Sacknase, Tomatenfritz, geistiges U-Boot, Viehdieb, Von-Rohr-Freak, Wombatz, Xylakant, YPS-Spezialagent, Zuchtzombie. Und so weiter.
Heute würde ich diese Worte nicht mehr wählen, denn heute bin ich älter, reifer, mit einem vom Leben und seinen Wendungen sandgestrahlten Herzen; desillusioniert, was den Respekt gewisser Individuen vor Privateigentum im öffentlichen Raum angeht, auch wenn dieses durch Qualitätsschlösser der Marke Kryptonite nach bestem Wissen und Gewissen gesichert ist. Früher war ich ein zorniger junger Mann, heute bin ich eher Gandhi-mässig unterwegs, so à la Der-Schwache-kann-nicht-verzeihen-Verzeihen-istdie-Eigenschaft-des-Starken.
Ich würde diese Worte so auch nicht mehr verwenden, da Beschimpfungen allgemein problematisch sind. Im Eifer des Wortgefechts greift man zu Begriffen, die auch für nicht Gemeinte verletzend sein könnten. Goretexjackenträger etwa könnte viele betreffen, auch nette Menschen. Ausserdem sind viele der erwähnten Schimpfwörter heute nicht mehr en vogue, wirken lahm, denn gerade die damals noch im Geburtskanal steckenden sozialen Medien haben die Schimpfwortproduktion drastisch verändert.
Vor zwanzig Jahren wurde mein geliebtes Colnago gestohlen. Nun mein schwarzes BMC, das kein besonderes Velo war, sondern reine Alltagspragmatik. Wir hatten lediglich ein geschäftsmässiges Verhältnis, keine Intimbeziehung. Ich wusste ja: Dass es geklaut werden würde, war bloss eine Frage der Zeit.
Wie viele Velos wurden mir schon gestohlen? Die Zahl ist vergessen. Aber ich erinnere mich noch an ein Allegro-Damenrad – nichts Exzeptionelles, aber doch recht hübsch –, das ich meiner Frau zum Geburtstag geschenkt hatte. Zwei Tage später stand es nicht mehr vor dem Haus – und das Dachrinnen-Fallrohr, an welches es gekettet gewesen war, fehlte ebenfalls. Dreist! Jedoch: Das Velo war so neu, dass noch keine emotionale Bindung hatte entstehen können. Es gibt auch die anderen Velos. Die, die ich schon länger besitze und liebe. Die nie unter freiem Himmel schlafen müssen. Auf die werde ich weiterhin aufpassen, werde sie hüten wie meinen Augapfel, die Schrotflinte auf meinen Knien im Schaukelstuhl neben meiner Veloherde die Nächte durchschaukelnd wache ich über sie.
Lieber Velodieb, ich warne dich. Wenn du beispielsweise mein wie eine Napoli-Glace lackiertes Velo klaust, dann steig ich aus meinem Gandhi-Anzug und verwandle mich in Mel Gibson in einem seiner miesesten Filme, mit der miesesten Laune, die ein mies gelaunter Mel Gibson haben kann – und ich werde Schimpfwörter für dich bereit haben. Und Zorn. Und ich sage es nochmals: Sei gewarnt, du miese Ratte! Du stinkender Hodenkobold. Du...!
Max
PS Song zum Thema: «Look Back in Anger» von David Bowie vom Album «Lodger», 1979. Wer «Bowie» für ein Schimpfwort hält, der oder dem sei der gleichnamige Song der Television Personalities ans Herz gelegt, vom Album «… And Don’t the Kids Just Love It», 1981.