• Juli 2023

Liebe in Frankreich – damals und heute

Am Morgen fühlte ich mich schrecklich, schweissgebadet lag ich im Hotelbett, hatte Halsschmerzen, beim Frühstück fehlte mir der Appetit. Wurde ich krank? Oder hatte ich bloss schlecht geschlafen, angesichts dessen, was ich vorhatte? Ich zwang mich, eine Banane zu essen, denn ich wusste, ich würde an diesem Tag wohl so etwas wie Zuversicht brauchen, vor allem aber Energie. Ich füllte die Bidons, stieg aufs Velo und fuhr los. Kneifen war keine Option; nicht heute.

Ein paar Wochen zuvor hatte ich im Keller eine Tasche gefunden. Sie war voller alter Rennveloklamotten, blau und rot und synthetisch, Sponsorenaufdrucke vom United States Postal Service. Eine Tasche voller Erinnerungen. Es war die Ausrüstung gewesen, welche ich für eine Reportage für «Das Magazin» getragen hatte, als ich Lance Armstrong werden wollte und mit dem Rennvelo einen Teil einer Tour-de-France-Etappe fuhr, über den Galibier-Pass und hoch nach Alpe d’Huez.

Zwanzig Jahre ist das her. Auch heute noch werde ich dann und wann auf die Geschichte angesprochen. Hazel Brugger meinte einst, sie erinnere sich noch gut daran, wie sie jene Ausgabe von «Das Magazin» in den Händen gehalten habe, sie sei damals noch ein Kind gewesen; und als sie mich dort auf dem Cover sah, auf dem Galibier-Pass stehend, ein erschöpfter Mann in dieser elend engen Rennvelomontur, da habe sie sich überlegt, lesbisch zu werden. In der Tat finden manche Menschen die unerbittlich alles abzeichnende Kleidung entwürdigend und fragen: Muss das sein? Darauf gibt es eine einfache Antwort: Ja. Weil: Aerodynamik ist die halbe Miete. Die Klamotten von damals passten noch (Elastan!). Also packte ich sie, schnallte das Velo aufs Autodach und machte mich auf den Weg nach Frankreich, um zu tun, was ich vor zwanzig Jahren getan hatte – und dabei darüber nachzudenken, was in dieser Zeit geschehen ist.

Sanft steigt die Strasse an, folgt einem kleinen Fluss, der Valloirette, dann wird sie steiler und windet sich bald in Kehren in die Berge hinein, in deren Spitzen die Wolken parkiert sind. Mit jedem Höhenmeter fühle ich mich etwas besser, und Erinnerung um Erinnerung kommt zurück, auch der erste Pfiff eines Murmeltiers lässt nicht lange auf sich warten, dann der zweite. Es ist, als begrüssten die Tiere einen alten Freund nach langer Zeit. Höflich grüsse ich zurück.

Exakt vor zwanzig Jahren wollte ich also Lance Armstrong werden, oder wenigstens ein bisschen. Bis dahin war das Velo bloss ein Fortbewegungsmittel für die Stadt gewesen. Nie sass ich davor länger auf einem Sattel als zwanzig Minuten. Wieso auch?! Aber ich schaute schon als Bub gerne die Tour de France im Fernsehen. Und mich nahm wunder, wie es sich anfühlte, das Leiden. Es musste wohl auch Schönheit darin zu finden sein, sonst würden es ja nicht so viele tun. Ausserdem war ich zu dick und kam in ein Alter, in dem man nur noch dicker werden würde. Also kaufte ich mir ein Taschenbuch mit dem Titel «Das Lance-Armstrong-Trainings-Programm – Trainieren wie ein Profi», und weil es da noch Winter und an das Rennvelofahren draussen nicht zu denken war für ein Weichei wie mich, schaffte ich mir auch eine Trainingsrolle an, ein Pulsmessgerät und absolvierte den «Siebenwochenplan zum Erfolg für Anfänger». Ich nahm die Sache ernst, suchte gar eine Ernährungsberaterin auf, denn ich hatte in dem klugen Buch gelesen: Der Schlüssel ist auch die Ernährung. Fertig war die Zeit der Schokoladencroissants am Morgen. Ab sofort gab es ein Glas warmes Wasser und dann Müesli. Rotes Fleisch, Alkohol, Süssigkeiten verschwanden. Meine Ernährung ging hin Richtung «komplexer Kohlenhydrate», «hochwertiger Proteine», «Chrom, Zink, Selen». Damals wusste man noch nichts von Armstrongs Geheimnis, welches ihm Flügel verlieh.

In der Zwischenzeit hat sich vieles wieder normalisiert. Es gibt sogar morgens manchmal Schokoladencroissants und abends Vino. Ich wurde nach jener Reportage kein vergifteter Rennvelofanatiker, der seiner Leidenschaft alles unterordnet, sondern ein moderater Amateur im Wortsinn, ein Liebhaber jenes Sports, der einem so viel gibt, nicht nur, wenn man ihn ausübt, sondern auch fernab der Strassen, etwa vor dem Fernseher sitzend (stundenlang!), beim Mitleiden bei den grossen und kleinen Rennen. Zudem die Räder selbst, die wunderbare Effizienz dieser einfachen Technik, nicht zu vergessen die Aspekte der Ästhetik: Das Rennvelo ist ein holistisches Hobby – und manchmal genügt es schon, am Kiosk in der Fachzeitschrift «Tour» zu blättern oder winters bei Rapha ein paar neue Radklamotten zu bestellen.

Bewusst gemächlich fahre ich der Passhöhe des Galibiers entgegen, damit ich möglichst viel Zeit habe, über das Damals und Heute nachzudenken – und vor allem die Zeit dazwischen. Dennoch überhole ich zwei japanische Rennradtouristen auf Mieträdern, die wohl extra angereist sind, um die grossen Pässe zu befahren. Und ich werde überholt. Von Motorradklubs. Von Wohnmobilen. Und von einer Frau auf einem aerodynamisch optimierten Carbon-Renner, die den Berg hochfliegt. Wieder pfeift ein Murmeltier. Die Strasse wird noch etwas steiler, die Landschaft karger, Schnee bedeckt die Hänge, und die Luft wird dünner.

In den letzten zwanzig Jahren ist einiges geschehen. Kinder kamen zur Welt, gingen in den Kindergarten, wurden eingeschult, sind heute grösser als man selbst. Es gab viel Freude, es wurde schallend gelacht, man feierte Feste, es gab auch Tränen. Menschen, denen man nahe war, starben. Die Zeit plätscherte, sie floss, sie strömte. Die Welt hat sich unentwegt gedreht und gedreht, und dann und wann stand sie Kopf, alles hat sich verändert, nicht zuletzt man selbst. Doch das Rennvelo war in dieser teils turbulenten Zeit eine Konstante der Schönheit, eine Verlässlichkeit der Ruhe, ein Zufluchtsort, um bei sich zu sein oder zu sich zu kommen. Das Rennvelo ist nicht nur ein Gefährt, sondern ein Gefährte – und dann und wann auch mein Therapeut. Noch nie war eine Sekunde auf dem Velo langweilig, selbst wenn sie langweilig war. Wie bei einem dreidimensionalen Wimmelbild gibt es auf Ausfahrten immer viel zu sehen und zu hören und zu riechen und zu spüren. Greifvögel, die über frisch gepflügten Äckern kreisen; Primarschulklassen, die auf dem Weg ins Turnen in Unterführungen im Kollektiv kreischen, einfach um des Kreischens willen; der Duft nach Heu oder frisch geschlagenem Holz; ein Grümpelturnier; ein Seifenkistenrennen; die schattige Kühle eines Waldes; ein Schweisstropfen, der das Rückgrat hinunterkullert. Man fährt aus der Stadt und radelt über Land und durch Welten, die wie aus der Zeit gefallen scheinen. Zudem kommt man an vielen Bauernhöfen vorbei, was mich als verstädtertes Landei immer wieder tief in Erinnerungen stürzt und mich so sowohl mit meiner Vergangenheit wie auch mit der ländlichen Schweiz verbindet.

Zudem ist das Velofahren perfekt, um über dies und jenes nachzudenken, ohne dass man zu sehr darüber nachdenkt. Man kann sich etwa ideal an Probleme heranschleichen, denn das Gehirn ist beim Fahren immer ein bisschen beschäftigt (mit der Landschaft, der Route, drohenden Gefahren, unfassbar hässlicher Agglo-Architektur), hat aber immer noch Kapazität, um an grösseren und kleineren Fragen herumzustudieren.

Diese halbautomatische Funktion des Reflektierens wird jedoch zurückgefahren und irgendwann eingestellt, wenn man die körperliche Aktivität steigert, beispielsweise auf den Galibier hochfährt – dann denkt man nach einer Weile gar nichts mehr, sondern lässt das Gehirn im Endorphinsud niedergaren, während man kurbelt und kurbelt. Nichts mehr denken zu können, ist ein ganz und gar erstrebenswerter Zustand. High geht es in die Höhe. Bis man oben ankommt und vom Rad steigt, zufrieden mit sich und der Welt, die einem zu Füssen liegt. Und dann das tut, was getan werden muss dort oben: den profanen Passschildschuss – ein Foto jenes Verkehrszeichens, auf dem steht, wo man steht, was eben geschafft wurde im Schweisse des Angesichts. Das Schild ist die Quittung. Da steht nicht nur der Name des Passes, sondern auch – noch wichtiger – die Höhe in Metern über Meer. Denn Gümmeler lieben Zahlen, davon können sie nicht genug bekommen, von Metern und Minuten und Watt und Gramm, alles, was man messen kann. Gefühle sind schön und gut, Zahlen jedoch sind absolut verlässliche und beständige Dinge, denen man vertrauen kann. Als ich auf dem Pass ankomme, bin auch ich zufrieden mit mir und der Welt. Aber ich stelle gleich fest: Die Passhöhe des Galibiers sieht anders aus als vor zwanzig Jahren. Der Mensch hat sich auch hier zu schaffen gemacht. Es gibt einen neuen Parkplatz, der auch an einem Montagmorgen um zehn schon überfüllt ist, es herrscht Dichtestress: Schmerbäuchige Motorradfahrer, die sich aus den Oberteilen ihrer Lederkombis häuten; Sportwagenfahrer, deren eben noch gequälte Karren leise knistern.

Was es vor zwanzig Jahren auch noch nicht gab: Werbebanner verweisen an Profifotografen, die unterwegs postiert sind und alle berg- und talwärts Fahrenden ablichten und die Bilder noch gleichentags gegen Geld auf ihrer Website anbieten. Es ist ein veritabler Zirkus auf dem Fleck dort oben.

Aber vor allem stellt sich mir eine Frage: Wo ist das alte Passschild? Das verdammte Passschild fehlt! Das Schild, auf dem steht, dass man sich auf 2645 Metern Höhe befindet, das Beweisschild, weswegen ich gekommen bin! Hat es jemand geklaut? Oder wurde es Opfer der winterlichen Schneemassen? Sicher ist bloss: Es ist nicht mehr da. Es gibt zwar ein neues Passschild, grösser und schicker, aber an einem anderen Ort – und vor allem steht dort: «altitude 2642m». Was ist mit den drei Metern geschehen? Wo sindsiehin?Etwasverwirrtschlüpfeich in mein Windjäcklein, esse noch eine Banane und steige wieder aufs Rad, um die steile Abfahrt unter die Räder zu nehmen, gemächlich, denn ich bin nun in einem Alter, in dem man nicht mehr so schnell die Berge runterfährt.

Für mich als praktizierenden Höhenängstler ist die hochgefaltete Dramatik der Alpen sowieso fast ein bisschen zu viel. Vorsicht ist auch angebracht: Ein böiger Wind geht, es beginnt zu tröpfeln, und die Strasse ist garniert mit Schlaglöchern. Und vor allem sitzt mir die Trauer im Nacken. Ein Schatten liegt über den Dingen. Ich spüre eine Ahnung von Furcht in den Knochen. Nur Tage ist es her, als der Schweizer Radrennfahrer Gino Mäder während der Tour de Suisse bei der Abfahrt vom Albula stürzte und tödlich verunglückte. Es war ein Schock.

Ich hatte Mäder nicht persönlich gekannt, aber dann und wann gesehen, beim Training, das war faszinierend: dass man einen Helden, den man nur aus dem Fernsehen kannte, in freier Wildbahn erspäht. Das macht ja auch einen Teil der Faszination des Radsports aus: die Volksnähe. Einmal hatte Gino mich überholt, am Gottschalkenberg (ein wunderbarer Buckel, um mit dem Velo hochzufahren). Freundlich hatte er dabei gegrüsst, wie unter Gümmelern üblich: «Hoi!», dann zog er davon. Drei Tage vor dem Start der Tour de Suisse wollte es der Zufall, dass wir eine Weile nebeneinander fuhren, auf dem Weg ins Reppischtal, und ins Gespräch kamen. Wir plauderten ein wenig und lobten die Gegend, die sich so wunderbar zum Velofahren eignete, sowohl für einen Profi wie ihn wie auch für einen Hobbyradler. Er sagte, er freue sich auf die Tour de Suisse, und bevor er sich verabschiedete und sein gewohntes Tempo wieder aufnahm, wünschte ich ihm viel Glück, ich würde am TV mitfiebern, ihm die Daumen drücken. Und ich dachte, was ich zu Hause allen erzählte: So ein sympathischer Mensch, so ein netter Kerl! Und dann die Tragödie, die einem vor Augen führt, wieder einmal: Man ist als Mensch verletzlich, gerade auf dem Velo, obwohl man sich dort so lebendig fühlt, wenn man durch die Landschaft fährt, so frei und leicht.

Vom Galibier geht es hinunter über den Col du Lautaret und dann ost-wärts nach Le Bourg-d’Oisans, ein Kaff, von dem aus es wieder hochgehen würde zum Ziel dieser kleinen Reise, nach Alpe d’Huez.

Was ich verdrängt oder vergessen habe: wie hässlich Frankreich sein kann. Natürlich sind da die Berge, die Spitzen noch schneebedeckt, wunderbar! Aber hat man den Pass über die Berge überwunden, kommt man in ein Tal – und durch dieses Tal fliesst nicht nur ein Fluss mit dem romantischen Namen Romanche, sondern auch der Verkehr auf der einzigen Strasse, die noch nicht einmal einen Namen besitzt, sondern bloss eine Nummer (D1091). Und es gibt Tunnel. Dunkle Tunnel. Vor zwanzig Jahren schrieb ich euphorisch darüber. «In dem lampenlosen Tunnel ist es so unglaublich dunkel und kalt. Es ist, als fahre man mit 60 Stundenkilometern ins Nichts, ins Innere der Erde, einem Ende entgegen. Meine Güte, denke ich, so muss es im Geburtskanal gewesen sein.» Mit einem Unterschied: Im Geburtskanal fährt hinter einem kein Harley-Davidson-Klub, der all seine abartig lauten und originellen und vom Strassenverkehrsamt wohl kaum zugelassenen Hupen und Sirenen ausprobiert. Es ist, als wäre die gesamte Polizei Frankreichs hinter mir her, plus die Feuerwehr, plus alle Ambulanzen. Immerhin sind nun Lampen montiert, doch es sind trübe Funzeln, und ich bin gottenfroh, als ich wieder in das warme Licht des Tages tauche, mich die Töffs überholen, einer nach dem anderen, ich bald wieder in Ruhe weiter meinem Ziel entgegenfahre, bis nach Le Bourg-d’Oisans komme und dort die Strasse erahne, die im Zickzack den Berg zu meinem Ziel hochführt, kühn in den Fels geschlagen.

Beim Rennvelofahren ist man immer mit der Zivilisation verbunden, man ist nie wie beim Wandern in der mehr oder minder freien, unschuldigen Natur, denn da ist ja die Strasse, die den Ort verbindet, den man verliess, mit jenem, den man erreichen wird. Eine geteerte Strasse von Menschen gebaut, mal gerade, mal kurvig. Dies macht für mich auch einen Reiz des Rennvelofahrens aus: Man flieht zwar vor der Welt, dennoch bleibt man mit ihr verknüpft, es ist eine Art Realo-Eskapismus auf schmalen Rädern. Bei der Auffahrt nach Alpe d’Huez allerdings fällt das Verhältnis zwischen Natur und Zivilisation leider ungünstig aus; zwar gurgeln Bächlein, und es zwitschern wohl auch Vögel im Geäst, doch hört man dies nicht, denn es sind Lastwagen unterwegs, Muldenkipper, und vor allem tonnenschwere Betonmischer – auf Französisch auf den schönen Namen camion malaxeur hörend –, die das Baumaterial in den Wintersportort hochkarren, damit dort noch mehr Appartementhäuser errichtet werden können.

Ich fahre ohne Hast, denn ich habe Zeit. Die Sonne knallt herunter, und die Strasse reflektiert sie. Es wird nun richtig heiss. Ich erinnere mich, dass ich vor zwanzig Jahren vergessen hatte, die Kniekehlen mit Sonnencreme einzuschmieren – und einen üblen Sonnenbrand an dieser dafür seltsamen Stelle mit nach Hause brachte.

Ich erinnere mich auch, dass ich nach der Fahrt im Hotel unter der Dusche erschrak, weil meine primären Geschlechtsmerkmale zu Miniaturgrösse geschrumpft waren (man braucht beim Velofahren das Blut überall, bloss nicht dort). Dann schiebt sich eine Wolke vor die Sonne, eine verbündete im Himmel droben, und macht die Sache etwas leichter. Noch einen Schluck mit Elektrolyten versetztes Wasser aus dem Bidon, und ich schnappe mir einen Typen, der vor mir fährt, in jeder Kehre komme ich etwas näher, bis ich ihn habe. Als ich freundlich grüssend an ihm vorbeiziehe, sehe ich: Er muss wohl hundert Jahre alt sein. Zudem ein Ranzen wie ein Walross. Aber egal: Überholt ist überholt!

Noch immer steht in jeder der 21 Kehren auf dem Weg nach oben eine Tafel, welche der Kurve ihre Nummer gibt und den Namen eines ehemaligen Gewinners einer Tour-de-France-Etappe trägt, welche hier hochgeführt hatte. Vor zwanzig Jahren war auf den Tafeln zudem ein grinsendes Murmeltier abgebildet, welches mich auszulachen schien. Das ist nun verschwunden, aber noch immer ist die Serpentine 14, die «Virage du Château», Beat Breu gewidmet, dem einstigen Bergfloh, der 1982 in Diensten des Cilo-Aufina-Teams mit Startnummer 151 an diesem Anstieg an der Spitze lag (es war diese Etappe, deren Start von protestierenden Bauern verzögert wurde, die für ihre zu früh gereiften Früchte keine Abnehmer fanden). Er hüpfte den Berg hoch, Spitzkehre um Spitzkehre, hinter sich den Peugeot des Tourdirektors, ich weiss es noch ganz genau, denn ich sass als Knirps vor dem Fernseher und jubelte. Breu in den steilen Rampen, keuchend, kämpfend, einen Buckel machend – doch von hinten kam der Franzose Robert Alban immer näher. Es sah so aus, als ob der kleine Breu sich bei seiner Flucht zu sehr verausgabt hätte und am Ende wäre, Alban über mehr Kräfte verfügen würde. Doch als Alban bis auf wenige Meter herangekommen war, ging Breu aus dem Sattel und fuhr davon, liess seinen Gegner mit einem unwiderstehlichen Antritt stehen. Eine demoralisierende Tat für den Franzosen. Breu sorgte für einen der grössten Schweizer Sportlersiege überhaupt.

Der Duft von Kupplungen und strapazierten Bremsbelägen liegt schwer in der Luft, nachdem ein vielrädriger Porschekonvoi mit heulenden Motoren und quietschenden Reifen sich gegenseitig die Strasse hochgehetzt hat. Noch ein paar Lkw folgen, ein paar Lieferwagen, ein paar zerbeulte Renaults mit Einheimischen, für die die Tempoangaben auf den Verkehrsschildern gut gemeinte, aber unverbindliche Vorschläge zu sein scheinen. Dann kehrt für einen Moment wieder Ruhe ein. Der wohlvertraute Friede kommt zurück, ich höre nichts als meinen eigenen Atem, die arbeitende Lunge, das regelmässige Keuchen, das dumpfe Pochen des pulsierenden Bluts in der Echokammer des Schädels, der Körper funktionierend wie eine Menschmaschine.

Ich muss im Leiden leise lächeln, als ich unterhalb der Église Saint-Ferréol die Stelle passiere, an der ich vor zwanzig Jahren im Schatten auf einem Mäuerchen sass und nicht wusste, ob ich mich vor Anstrengung übergeben muss. Heute scheint alles ein My einfacher zu sein. Wohl weil man seinen Körper besser kennt und ein paar Dinge gelernt hat, etwa seine Kräfte einzuteilen. Etwas, das ich auch für meine Arbeit übernommen habe: nicht alles aufs Mal zu wollen, sondern Schritt für Schritt zu tun – dafür stetig, ausdauernd, beharrlich. Irgendwann hatte ich festgestellt: Velofahren und Bücherschreiben sind verwandt, wie zwei Geschwister (welches der beiden ist wohl schöner?). Darüber denke ich nach, als ich ein leises Sirren vernehme. Ein Insekt? Das Sirren wird lauter. Ein Monsterinsekt? Nein, es kommt von einem Elektrovelo, das mich nun überholt. Auf dem Velo sitzt eine alte Frau in legerer Freizeitmode und mit modischer Sonnenbrille. «Bonjour», sagt sie fröhlich, winkt auch noch, surrt davon, verschwindet bald um die nächste Kehre. Ich komme mir verglichen mit der Elektro-Oma langsam vor. Und es fällt mir wieder ein, dass ich müde bin.

Der Anstieg ist wahrlich keine Schönheit, aber er ist hart, weil immer steil – dies macht auch seinen Reiz aus, das hat ihn zum Mythos gemacht und zu einer ultimativen Prüfung für die Profis der Tour. Als der Philosoph und Hobbyradler Peter Sloterdijk einst gefragt wurde, ob man als Normalo beim Befahren der grossen Berge ein Gefühl dafür bekomme, was Profis leisten würden, sagte er, es ginge gar darüber hinaus. «Man begreift, dass das, was diese Männer leisten, alles übersteigt, was Normalsterbliche begreifen können. Das erinnert fast an ein theologisches Studium: Man braucht den ersten Grad der Einweihung, um zu verstehen, dass man nichts versteht.»

Als ich in Alpe d’Huez ankomme, als es geschafft ist, empfängt mich eine lärmige Baustelle. Der Ort hat in den letzten zwanzig Jahren an Hässlichkeit zugelegt, noch mehr Skilifte wurden an die Hänge geworfen, gedeckte Outdoorförderbänder für faule Skiknirpse zieren die Wiesen, die Gipfel teilen sich das Panorama mit Baukranen. Aber das kühle Bier in der Kneipe mit dem seltsamen Namen Alaska schmeckt unglaublich gut. Das zweite ist fast noch besser! Und was ich sicher weiss in diesem Moment: Nach Alpe d’Huez würde ich nie mehr kommen, denn der Weg dorthin ist ein Sauhund. Das Rennvelofahren aber, das bleibt, was es wurde in den letzten zwanzig Jahren: mein bester Freund.