INTERCITY-JIU-JITSU
Humor ist nicht unbedingt das, was man eine deutsche Kernkompetenz nennt. Eine gute Portion davon scheint jedoch Stefanie Berk zu besitzen, Vorständin bei der DB Fernverkehr AG. Sie gab einer grossen Zeitung ein langes Interview, denn in Deutschland besteht reger Redebedarf über die dortige Eisenbahn – die Gründe sind hinlänglich bekannt. Frau Berk wird in diesem Interview gefragt, was sie so erlebe, wenn sie auf einer privaten Party sage, wo sie arbeite. Die Antwort: «Man hat auf jeden Fall ein Gesprächsthema, und es ist nicht langweilig (lacht).»
Das neue europäische Bahnranking der NGO Transport & Environment ist komplett humorlos. Es hält nüchtern fest: Auf die Deutsche Bahn ist noch immer Verlass, was ihre Unzuverlässigkeit angeht. Die DB landet in der Studie in Sachen Pünktlichkeit auf dem zweitletzten Platz, hinter der griechischen Gesellschaft Hellenic Train.
Ich weiss: Sich über die Deutsche Bahn aufzuregen, ist, Eulen nach Athen zu tragen. Allerdings habe ich unlängst eine gänzlich neue Verdrussvariante erlebt. Und sie ging so: Dass am Abfahrtsort kurzfristig der Bahnhof gewechselt wird, war schon mal etwas anderes als eine banale Verspätung oder ein Zugausfall. Statt von Frankfurt Hauptbahnhof ging es vom Bahnhof Süd los. Easy. Dabei kam mir zugute, dass ich als treuer Anhänger der Überpünktlichkeit über genügend Reaktionszeit verfügte. Also ab zum Südbahnhof, ich hatte auch üppig Zeit, mich dort in der zugigen Unterführung am Kiosk mit Zeitungen einzudecken.
Der Schatz der deutschen Sprache ist reich, er kennt viele schillernde Wörter. Eines davon ist «Wagenstandsanzeiger». Der gibt Informationen darüber, in welchem Sektor des Perrons der Wagen der Zugkomposition zu stehen kommt, in dem man seinen Sitzplatz reserviert hat. Manchmal nennt man ihn auch «Wagenreihungsplan». In meinem Fall: Wagen 12 = Sektor A. Alles klar! Nun war es aber so, dass der Zug in präzis verkehrter Reihenfolge einfuhr. Und da keine Abfahrtszeit angegeben war, war unklar, wie lange er stehen würde. Zudem: So ein ICE ist 358 Meter lang. Meine Bestzeit über 100 Meter war zur Schulzeit etwas unter einer Minute – ohne Gepäck. Obwohl im Rechnen noch schlechter als im Rennen, war mir klar: Rein in den Zug, aber subito! Hauptsache, man kam von hier weg.
Bald war der Bahnsteig leer und der Zug voll, aber falsch gefüllt. Und da die Ersten die Letzten sein mussten, wollten sie von vorne nach hinten, und die von hinten gleichzeitig nach vorne, und alle mit Hartschalenkoffern und Skiausrüstungen und Cellos und Kinderwagen und vielbeinigen Haustieren – ein wahres Intercity-Jiu-Jitsu im Mittelgang.
Endlich am Platz, versteckte ich mich hinter der Zeitung – und stiess darin auf das Interview mit Frau Berk und ihren Sinn für Humor. Der Rest der Reise verlief vertraut: Wir kamen mit sich üppig angesammelter Verspätung in Basel Badischer Bahnhof an. Der Zug wurde wohl deshalb nicht weiter in die Schweiz eingelassen. Also Umsteigen auf die Miniatur-S-Bahn. Dort eine Druggede wie beim Basler Morgenstreich oder einer Tokioter U-Bahn zur Stosszeit. Irgendwann kam ich zu Hause an, verspätet, müde und gerädert, aber ich dachte: Man hat auf jeden Fall ein Gesprächsthema, und es ist nicht langweilig (ha, ha).
PS: In der Kategorie Zuverlässigkeit gewann bei besagter Studie übrigens die SBB. Für den Gesamtsieg im europäischen Bahn-Ranking reichte es jedoch nicht.
Den holte sich: Trenitalia!