VERTAGEN UND VERTRÖLEN
Die Ränder der Städte sind die Zonen des Interessanten, denn dort findet man die Dinge, welche für die Zentren zu unwichtig sind. Kiesplatz-Occasions-Autohandlungen etwa. Es wäre grossartig, gäbe es auf dem Zürcher Paradeplatz einen Autohändler für Gebrauchtwagen, sechshundert ausgestellte Modelle, wimpel- und ballongeschmückt, samstags mit Bratwurststand. Gibt es aber nicht. Ebenso wenig einen Baumarkt, bei man die Dinge bekommt, die man wirklich braucht, Schrumpfschläuche etwa. Oder ein Geschäft für präzise Waagen aller Art wie Ladenwaagen (nicht zu verwechseln mit dem Ladewagen von beispielsweise Mengele Agrartechnik, mit dem die Landwirte Gras und Heu einbringen). An den Rändern der Städte gibts noch Platz dafür.
Auch mein Pneuhändler sitzt am Saum der City – und dort unweit eines Frisch-Fisch-Marktes, wo ich mit den neu montierten Sommerreifen einen Stopp einlegte, um ein paar Dosen Jahrgangssardinen zu besorgen, die mich gedanklich zurück an die Steilküste bei Peniche in Portugal bringen würden. Denn das Meer und ich … ich und das Meer: Da besteht eine Verbindung. Wäre ich der Esoterik zugeneigter, müsste ich davon ausgehen, dass ich in einem früheren Leben ein Seemann gewesen bin; oder ein Buckelwal; oder ein Blobfisch (gehört zur Familie der Dickkopf-Groppen); oder zumindest Lebendgestein.
Eine Welle der Sehnsucht nach der See überkam mich, als ich beim Fischhändler mit einem Stapel unter dem Kinn fixierter Sardinenbüchsen in den Händen vor der Vitrine mit der Frischware stand: All das (in mehrerlei Hinsicht) delikate Meeresgetier, welches man dem grossen Wasser entrissen hatte. Ich wollte jedoch nichts Verderbliches kaufen, denn ich war auf dem Weg zu Freunden, eine Essenseinladung. Dort konnte ich ja schlecht darum bitten, zehn Kilo Frischfisch im Kühlschrank zwischenzulagern. Sicherlich gibt es Menschen, die so was, ohne mit der Wimper zu zucken, tun. Doch leider habe ich Mühe, andere um Gefallen zu bitten oder einzuspannen, diesbezüglich bin ich schwer gehemmt. Als ich jedoch die Austern sah, kleine Fines de Claire N° 2 mit ihren spurenreichen, tresorharten Schalen, jede eine Schönheitskönigin, konnte ich nicht anders, als zwei Dutzend zu ordern, zudem eine Zitrone und ein Austernmesser. Dies würde mein Mitbringsel sein!
Wenig später schaute ich auf Youtube, wie die Dinger gleich schon wieder zu knacken sind, bald schob ich die Zungenspitze in den Mundwinkel und den scharfen Austernöffner zwischen die Schalen, mit Sorgfalt und aber auch Kraft, bald war das erste Exemplar geöffnet, die Muschel im Innern perlmuttglänzend wunderschön! Ich dachte: Man muss in die Dinge hineinsehen, damit man sie erfassen kann! Ist wie bei den Menschen. Und als ich dies dachte, kam mir in den Sinn, dass ich an dieser Stelle nicht über Austern, sondern über das Astrodata-Horoskop hatte schreiben wollen, die «grosse Persönlichkeitsanalyse», welche ich im Keller gefunden hatte. So war es letzte Woche an dieser Stelle angekündigt. Aber typisch Max: dass er Dinge nicht tut, obwohl er sie zu tun versprochen hat. So ist er eben. Da kann er nichts dafür. Ist Teil seiner Persönlichkeit. Ein talentierter Spezialist im Verschieben und Vertagen und Vertrölen. Dies stünde sicherlich auch auf einer der vierzig Seiten der Astrodata-«Analyse», vor dreissig Jahren erstellt und seither nie mehr angeschaut. Jetzt aber subito, gleich, bald, hochheilig versprochen!