Lieber Vincent Van Gogh
es gibt Dinge, von denen hat man noch nie gehört, auch wenn man von sich denkt, nicht der grösste Banause zu sein, sondern vielleicht sogar so etwas wie kleinkultiviert. Selbstverständlich kenne ich Ihren Namen, Vincent van Gogh, und weiss: Impressionist, Sonnenblumen, Hau weg, Ohr ab. Der Name Alice Neel aber sagte mir nichts, ganz und gar nichts. Trotzdem bezahlte ich die neun Euro Eintritt, um die Ausstellung der mir unbekannten Malerin in dem Museum zu sehen, welches Ihren Namen trägt: «Fondation Vincent van Gogh Arles». Nun ja, der wahre Grund für den Museumsbesuch war die Flucht vor der Hitze, die so affenartig war, als brutzelten Ausserirdische aus UFOs mit Laserkanonen auf die alte Stadt hernieder. Denn das Tolle an Museen heutzutage ist nicht immer nur das, was an den Wänden hängt oder auf Sockeln steht, sondern auch das kontrollierte Klima; die Kunst mag es ebenfalls gern kühl.
Die Bilder von Alice Neel waren Porträts und zeigten mehrheitlich Menschen, die ich nicht kannte. Ich dachte: «Mal was Figuratives... why not?» Ich gab mir Mühe, jedes Bild länger als zwei Sekunden anzusehen. In Museen bin ich grundsätzlich wahnsinnig schnell. Den Louvre in Paris schaffte ich schon in unter zwölf Minuten und dreissig Sekunden. Aber ich wusste ja, wie heiss es draussen war. Also ermahnte ich mich zu mässigem Tempo, besah geduldig die Leinwände, legte den Kopf mal linksschief, mal rechtsschief, schürzte mehr als einmal die Lippen, sagte flüsternd: «Interessant.»
In einem der Museumsräume hörte ich jemanden referieren. Ich war auf eine Führung aufgelaufen, unauffällig hängte ich mich an, folgte der trägen Traube durch das Museum. Zwar blickte mich dann und wann eine der Besucherinnen missbilligend an, da ich von ihrer bezahlten «Guided Tour» profitierte, ich lächelte dann aber einfach herzerweichend halbdebil – das kann ich ziemlich gut.
So erfuhr ich einiges über die Werke und die 1984 verstorbene Künstlerin, die die Menschen so pointiert porträtierte, dass die Bilder den Porträtierten nicht immer gefielen, da sie die Fähigkeit besass, das Innere der Gemalten nach aussen zu kehren. Tatsächlich schienen die Menschen nicht immer vorteilhaft dargestellt (und insgeheim war ich froh, hatte Alice Neel mich nicht porträtiert). Je länger ich zuhörte, je mehr ich sah, desto mehr verstand ich, und desto besser gefielen mir die Porträts. Das Allerallerwichtigste aber, was ich erfahren durfte, war bloss ein Nebensatz. Als man von einem Raum zum nächsten schlenderte, da merkte die Museumsführerin an, dass Alice Neel ihre wichtigsten Bilder erst spät gemalt habe, genauer: im Alter zwischen sechzig und achtzig Jahren. Dieser Lebensabschnitt sei die mit Abstand fruchtbarste Phase ihres Schaffens gewesen.
Die unerbittliche Sonne drückte mir den Strohhut auf die Ohren, als ich die klimatisierte Kunstwelt verliess – und ich war sehr froh, beide Ohren zu haben, sonst wäre der Strohhut eine schräge Sache gewesen. Es waren glücklicherweise nur ein paar Schritte bis zur schattigen Terrasse des sehr agreablen Hotels Nord-Pinus an der Place du Forum. Dort sass ich bald, und unter dem Strohhut rechnete mein Gehirn nicht ohne Mühe aus, dass ich im Jahr 2029 sechzig Jahre alt sein würde, also in elf Jahren und zehn Monaten und neun Tagen. Ich lehnte mich zurück und dachte: «Dann folgen die wichtigsten Texte. Zwischen sechzig und achtzig Jahren.» So würde es sein. Bestimmt. Und bis dahin wäre es komplett blödsinnig, sich Mühe zu geben und sich Gedanken zu machen. Neun Tage und zehn Monate und elf Jahre würde ich also trödeln und bummeln und schludern. Am besten, ich fange gleich jetzt damit an.
Halt die Ohren steif! Max Küng
PS Ausstellung zur Kolumne: «Alice Neel: Painter of Modern Life», noch bis 17. September in der Fondation Vincent van Gogh Arles, ab 13. Oktober in den Deichtorhallen Hamburg.