TAUSEND FÜSSE
Wenn der Tag zu Ende gegangen ist und die Nacht ihre dunkle Decke über das Land und die Stadt gelegt hat, die Erde uns in die schwarze Leere des Universums dreht und die meisten Menschen wohl bereits schnarchend in ihren Betten liegen, dann ist es Zeit für die kleinen Dinge, von denen man niemandem gross erzählt, weil sie niemanden interessieren – ausser einen selbst.
Man ist zu müde, um noch im neuen Knausgård zu lesen, der seiner Natur gemäss dick und hartnäckig auf dem Nachttisch harrt. Man ist aber auch noch zu wach, um unter die Bettdecke zu schlüpfen und zu schlafen. Im Fernsehen gibts längst keinen Livesport mehr, bloss auf Sky kommt noch ein Boxkampf direkt aus Las Vegas, was mich als friedliebenden Menschen nicht interessiert. In jenen Momenten klappe ich den Laptop auf und schaue mir an, was ich nur anschaue, wenn mir niemand dabei zusieht: Autos. Genauer sind es Gebrauchtwagen auf AutoScout24. Es ist nicht so, dass ich ein Auto benötige, ich habe eines, es leistet beste Dienste. Und ich schaue auf Auto-Scout24 auch nur Fahrzeuge an, die für mein Leben absolut keinen Sinn machen. Autos, die unvernünftig sind und für die ich mir vielleicht nicht einmal einen Satz neuer Reifen leisten könnte, geschweige denn eine Motorenrevision. Es sind Autos, die nicht mehr gebaut werden, denn zu den zeitgenössischen Vehikeln habe ich die emotionale Verbindung längst verloren. Es sind gedankliche Reisen zurück in die Kindheit, in eine Zeit, in der diese Autos reale Träume waren, Fluchtvehikel in Welten, von denen man schon damals ahnte, dass man sie wohl nie wirklich erreichen würde – aber in diesen Autos wäre man zumindest schnell unterwegs dorthin.
Müde und wach zugleich sitze ich in solchen Nächten im kalten Licht des Computers und fülle die Garage in meinem Kopf mit neuen alten Autos. Lotus Esprit. Maserati Bora. Alfa Zagato. Bis die Kopfgarage voll ist. Dann wechsle ich manchmal zu kleineren Dingen, die noch Raum im Schädel finden: Uhren. Das ist – man muss es betonen – einer der grossen Vorzüge von Armbanduhren: Sie brauchen kaum Platz, selbst in der Vorstellung nicht.
Irgendwann kommt die grosse Müdigkeit über mich, schnell falte ich den Laptop zu, bevor die Augenlider runterklappen wie die Scheinwerfer eines kantigen Ferrari Dino. Im Bett dann letzte Gedanken: Karren und Uhren, Zahn- und Autoräder, rotierend und sich dabei um die eigenen Achsen drehend wie Planeten. Erinnerungen an ein Leben als Kind, als Bub mit Träumen, die noch immer existieren, versteckt und verschüttet zwar, aber noch immer vorhanden. Dann schlafe ich ein, vielleicht mit einem Lächeln im Gesicht. Auch im Wissen darum, dass es gut ist, dass die Sehnsüchte von damals nie in Erfüllung gegangen sind, denn: Von was sollte man denn sonst noch träumen, wenn man als Erwachsener wieder zum Kind wird? Und dann träume ich tatsächlich. In diesem Traum bin ich ein Tausendfüsser – damit ich genug Extremitäten habe, um all die Armbanduhren zu tragen, die ich mir im Traum gekauft habe. Es ist allerdings etwas seltsam, die Uhren an den tausend Beinen zu tragen. Das sieht zwar chic aus, aber das Ablesen der Zeit ist echt mühsam. Und dann erst das Fahren in den alten Sportwagen mit ihren kleinen Gaspedalen! Dafür sind tausend Füsse definitiv neunhundertneunundneunzig zu viel.
Um sechs Uhr dreissig schreckt mich der Wecker aus dem Traum, scheucht mich zurück in die Wirklichkeit eines gegenwärtigen Wochentages. Auch ein Wecker ist eine Uhr. Leider aber eine der ganz, ganz blöden Sorte.