• Mai 2022

TAG DER BEFREIUNG

Als ich beschloss, in den Süden zu fahren, um nachzusehen, ob das Meer noch da war, hatte ich es seit zwei Jahren, zwei Monaten und ein paar zerkrümelten Tagen nicht mehr gesehen. Das letzte Mal war im Februar 2020 gewesen, also kurz bevor die Schlagzeilen in den Zeitungen von der einen Sache dominiert werden sollten. Bis dahin waren die News ganz andere gewesen: «Wegen einer Schienbeinblessur muss Schwingerkönig Christian Stucki den Saisonstart verschieben», schrieb etwa der «Blick». In der NZZ stand, der Zoo in Zürich erhöhe ab April seine Eintrittspreise. Und der Tagi berichtete von zwei Frauen, die im Kreis 3 in Zürich in einem Brockenhaus ein Kissen kauften und darin 20’000 Franken fanden. Es waren ganz normale Nachrichten. Denn es waren ganz normale Zeiten – oder das, was wir dafür hielten. Und ich war in den Sportferien ans Meer gefahren, weil ich den Schnee nicht mehr sehen mochte, blickte auf die Wellen, leckte ein Pistazieneis und ahnte nicht, dass es für ein Weilchen das letzte Mal sein würde, dass ich das Meer sehen würde; denn nicht weit von dort, wo ich stand, wurde gerade ein 38-jähriger Mann namens Mattia Maestri mit unbekannter Diagnose in ein Spital eingeliefert. Wenig später war er in Italien als «Patient 1» bekannt («Patient 0» wurde nie gefunden). Und dann ging die ganze Scheisse so richtig los.

Zwei Jahre, zwei Monate, ein paar zerkrümelte Tage: Als hätte man eine Strafe abgesessen. Und kaum wieder in so etwas wie Freiheit entlassen, zog es mich an den Ort, an dem ich das Meer zum letzten Mal gesehen hatte, nach Camogli, vierundzwanzig Schnellzugminuten südlich von Genua. Eine Reise als Beschwörung eines herbeigesehnten Endes, dass der Kreis sich schlösse, die Krise nun gebannt sei – aber just zu jenem Zeitpunkt, als auch der Tag sich jährte, als in Camogli der Friedhof ins Meer abgerutscht war und die Särge in den Wellen trieben. Doch ich wertete dies nicht als schlechtes Omen, liess mich nicht abhalten – allerdings war ich nicht der Einzige, der diese Idee zu haben schien. Die Hotels und Fischrestaurants waren gut mit Zürcher:innen bestückt («Hoi Michèle! Hoi Stefan! Hoi Katja!»). Zudem beging Italien am 25. April seinen «Anniversario della Liberazione», den Feiertag, der an den siegreichen Kampf gegen den Faschismus erinnert. Folglich war die nach dem Freiheitskämpfer Giuseppe Garibaldi benannte Promenade am Meer voll vergnügter Tagesausflügler, die sich mit den Horden aus dem Norden vermengten. Ja, das ligurische Meer muss schon wieder ganz schön viel Zürideutsch ertragen. Aber es liess sich nichts anmerken, tat stoisch, was es immer schon tat. Welle um Welle brach herein, raubte knirschend den schwarzen Kies vom Strand, gab ihn wieder her. Es störte sich nicht daran, dass ich ihm dabei zusah. Die schreitenden Möwen schauten ohne Scheu, ja frech. Beim Souvenirladen hingen wie zwei Jahre zuvor die Packungen mit den Plastiksoldaten, darunter solche mit britischen, türkischen und russischen Flaggen. Das Pistazieneis schmeckte so gut wie damals, ebenso der erste Negroni um fünf inklusive der obligaten Gratis-Apéro-Happen-Armada. Man hätte meinen können, alles sei wieder in Ordnung. Alles sei grande. Obwohl ich wusste, dass dem nicht so war. Denn trotz strahlendem Himmel war alles doch recht wolkenverhangen.

Aber was ich eigentlich schreiben wollte: Das Meer, es ist noch da! Und es sieht gut aus! Verdammt gut sogar. Kein bisschen gealtert in den zwei Jahren und zwei Monaten und den paar zerkrümelten Tagen. Etwas, das man von mir leider nicht behaupten kann.