• Oktober 2024

SCHICKSAL ALS CHANCE

Die Geschichte geht so: Ein Mann, nicht mehr richtig jung, aber auch noch nicht wirklich alt, genauer gesagt achtundzwanzig, er fährt morgens um vier auf der Autobahn, in Italien, irgendwo in der Nähe von Neapel. Der Mann will aus den Ferien zurück in die Schweiz, zusammen mit seinem Hund namens Sky in einem Cupra Formentor VZ5. So stand es in der Zeitung, die ich auf meinem Handy las, bequem in der Bar eines Hotels östlich von Genua sitzend, in einem zur Herbstferienzeit gut besetzten Zürcher Aussenposten namens Camogli. Draussen regnete es, der Wind peitschte die Tropfen gegen die Fenster, das Meer war von einem bleiernen Blau, man hörte die Wellen branden. Der Mann in seinem Cupra wurde ausgebremst, zwei Wagen schoben sich vor den seinigen, einer klemmte sich dahinter, Maskierte stiegen aus, er wurde aus seinem Auto gezerrt, bald stand er auf dem Seitenstreifen, gerade noch konnte er seinen Hund aus dem Kofferraum retten, von seinem Cupra sah er alsbald nur noch die dynamisch geformten Rücklichter.

Sein Auto fuhr davon, mitsamt seiner Habe, seinem Portemonnaie, seinem Handy. Er machte sich auf den Weg zur nächsten Tankstelle, mit nichts als den Kleidern an seinem Leib, den Schuhen an den Füssen und seinem Hund namens Sky, den er zuweilen trug, da der Weg voller Unrat und Scherben war.

So weit, so schlecht. Doch der Artikel endete mit zwei positiven Aspekten. Einerseits wurde dem Mann von einem Einheimischen geholfen, die Versicherung organisierte die Rückreise, er sass bald in einem Zug in die Schweiz. Andererseits veränderte die Absenz des Handys sein Leben, wenigstens für eine Weile. Er sagte der Zeitung: «Es war eine seltsame, aber schöne Erfahrung, ohne mein Handy zu reisen. Ich habe mit Menschen gesprochen, die ich sonstvielleicht nie kennen gelernt hätte.» Mich überkam leiser Neid, als ich dies las. Das möchte ich auch erleben! Also nicht, morgens um vier auf der Autobahn von Maskierten ausgeraubt zu werden. Es gibt sicherlich Menschen, die solche Fantasien hegen, aber es werden sehr wenige sein. Nein, ich möchte, dass mir mein Handy abhandenkommt – so dachte ich, während ich es in meinen Händen hielt, als wäre es ein Teil von mir, eine Erweiterung des Körpers, nicht physisch verwachsen, aber emotional verbunden.

Erst unlängst ertappte ich mich dabei, wie ich durch die Wohnung ging und nervös mein iPhone suchte, unter der Zeitung auf dem Tisch schaute, ins Badezimmer spähte, die Taschen meines am Haken hängenden Mantels abklopfte. Bis ich merkte, dass ich es am Ohr hielt, ich am Telefonieren war, gefangen in einer Warteschlaufe.

Man nennt es wohl Sucht. Unklar, wann sie anfing. Ebenso unklar, wo sie hinführen würde. Sicher nur, dass ich etwas ändern wollte, sollte, müsste. Aber die angewachsene Macht der Gewohnheit ist gewaltig. Zudem: Wie sollte ich ohne Handy wissen, wie ich von A nach B komme? Wie das Wetter am Nachmittag aussieht? Was in Echtzeit in der Welt geschieht? Und die Jass-App?! Die Wordfeud-App?!

Das Schicksal – wie im Falle des ausgeraubten Mannes im elektronischen Zeitungsbericht – sähe ich als eine Chance. Oder wäre ich doch selbst in der Lage, zu verzichten? Und wenn ja, für wie lange?

Ich aktivierte die Stoppuhr auf dem Handy, legte es auf den Tisch der Hotelbar, schlug das Buch auf, welches ich zu lesen begonnen hatte. Sieben Seiten Clemens Meyer hatte ich bereits geschafft, 1049 noch vor mir. Ich bestellte beim weiss livrierten Kellner einen Hanky Panky und versenkte meinen Blick in die gedruckten Buchstaben. Die Uhr lief.