Liebe Frau Weibel
das iPhone in den Händen, auf einer Holzbank hockend, tippte ich einem Freund eine Nachricht, eine Art moderne Postkarte mit am Ende «Saluti aus dem Schanfigg». Denn dort war ich, in diesem Tal, welches sich zwischen Chur und Arosa gekrümmt hinlegt wie eine schlafende Katze.
Die Rechtschreibabteilung des iPhones weiss nicht, wie schön es im Schanfigg ist, sie kennt noch nicht einmal den Begriff «Schanfigg», ist jedoch besserwisserisch um eine Alternative nicht verlegen, nämlich «Schamfilen». Ein Wort, von dem ich noch nie gehört hatte. Ich dachte, es müsse sich bei «Schamfilen» um so etwas wie das Ablegen/Archivieren von digitaler Erotik handeln: das «Filen» von «Scham». Aber ich lag – wie so oft im Leben – falsch. Der Duden sagte mir dann: «Schamfilen» sei ein Wort der Seemannsprache und beschreibe die unerwünschte Abnutzung von Leinen, Segeln und Ähnlichem durch unnötiges Scheuern. Ein tolles Wort, aber sicherlich schwer im Alltag fern der See unterzubringen.
Und dann kam mir in den Sinn, dass ich auch Ihnen schreiben wollte, liebe Frau Weibel, Sie wissen, weshalb. Denn mein schwarzer Škoda war mehr als schamfilt, als ich ihn am Tag vor der Abfahrt in die Ferien in der blauen Zone parkiert antraf. Der linke Rückspiegel hing bloss noch an einem dünnen Kabel baumelnd herunter. Ein trauriges Bild. Dann sah ich: Unterm Scheibenwischer klemmte ein Zettel mit einer handschriftlichen Notiz. Sie war von einer Frau J., welche offenbar über eine fantastische Auffassungsgabe verfügt, gute Augen besitzt und ausserdem Gerechtigkeitssinn. Frau J. war Zeugin gewesen, wie der Rückspiegel meines Autos abrasiert wurde von einem vorbeijagenden Auto – und hatte sich das Kennzeichen notiert. Ja, und kurz darauf klingelte Ihr Telefon, Frau Weibel.
Als ich Sie anrief, da taten Sie, als wüssten Sie von nichts. Als ich schilderte, dass eine Frau J. alles beobachtet habe, da sagten sie: «Aha.» Als ich sagte, Sie hätten meinen Rückspiegel anscheinend mit einem lauten Knall weggeputzt, da erwiderten Sie: «Wenn Sie das sagen...» Als ich meinte, dass es doch komisch sei, dass man einen Rückspiegel abfährt und nichts merkt, da machten Sie Geräusche, die darauf schliessen liessen, dass ich Ihre Nerven zu schamfilen schien. Sie sagten mit Augenverdreh-Unterton: «Was kostet es?» Sie sagten nicht «upsala» oder «sorry» oder so etwas Ähnliches, nein, Sie sagten: «Hören Sie, ich hatte gestern einen schwierigen Tag, okay?» Und Sie hätten weder Zeit noch Lust auf die Fortführung des Telefonates. Ich solle doch einfach die verdammte Rechnung schicken. Dann legten Sie auf. Mit Staunen und Zittern sass ich noch eine Weile im Büro – so muss es sich anfühlen, wenn man mit Donald Trump telefoniert hat, dachte ich und sinnierte noch eine Weile über Menschen nach, die nicht merken, wenn sie anderen die Rückspiegel wegrasieren.
Gleichentags noch fuhr ich in die Werkstatt, denn mit einem herunterbaumelnden Rückspiegel kann man nicht ins Schanfigg kurven. Der Mechaniker besah sich den Schaden. Dann legte er Hand an. Es machte «klack», es machte «klick», es machte «klonk» – und der Spiegel war wieder dran. Was er vollbrachte, war nicht weniger als eine veritable Wunderheilung. Was ich ihm schulde, fragte ich, fasziniert ob seiner Tat. Aber der Mechaniker sagte, es sei schon in Ordnung so, sei halt ein gut gebautes Auto, robust, und gab mir lächelnd die Hand.
Ja, Frau Weibel, das wollte ich Ihnen kurz schreiben: dass Sie keine Rechnung bekommen, weil der Mechaniker ein feiner Kerl ist. Ich überlegte zwar kurz, den Mann zu einer horrenden Rechnung anzustiften, in Millionenhöhe eventuell gar – aber das wäre nicht das, was ein guter Mensch tut. Wenn die Ferien vorbei sind, dann bring ich einen Sack Gipfel in die Garage, als Dank.
Von mir hören Sie nie mehr wieder was – ausser Sie fahren den Rückspiegel nochmals ab. Ihre Nummer hätte ich ja noch.
Mit rückblickenden Grüssen
Max Küng
PS: Song zum Thema: «I’ll Be Your Mirror» von The Velvet Underground & Nico, 1967.