PLATTENTEKTONIK
Kürzlich sprach ich mit meinem Sohn über Schallplatten, also diese mehrheitlich schwarzen Scheiben mit Mittelloch, auf denen spiralförmig von aussen nach innen verlaufend beidseitig in einer Rille analoge Daten gespeichert sind, zumeist Musik. Dieses Speichermedium wurde in der Jugendsprache seines Materials wegen auch gerne griffig «Vinyl» oder aufgrund der Form «Scheibe» genannt – aber diese Begriffe gehören längst nicht mehr zum Jugend-, sondern zum muffigen Boomer-Sprachschatz. Das ist der Unterschied zwischen der Schallplatte und der Zeit: Letztere dreht sich nicht im Kreis, sondern jagt geradeaus ins ungewisse Dereinst.
Ich musste beim Vater-Sohn-Gespräch feststellen, dass das Konzept Schallplatte auf wenig Verständnis stösst. Zwar erklärte ich mit Begeisterung die Vorzüge dieser wunderbaren Erfindung, lobte den physischen Aspekt, die Haptik, die Optik, die Möglichkeit des dosierbaren und bewussten Konsums, doch mein Sohn sah mich bloss mitleidig an. Weshalb gekaufte Tonträger besitzen, die Platz benötigen und verstauben, wenn doch alles immer und überall frei verfügbar ist?! Ich war einigermassen desillusioniert – und es tat mir auch für den jungen Menschen leid, denn die Schallplattensammlung würde später nebst ein paar alten Rennvelos einen Grossteil seines Erbes ausmachen.
Die derzeitige Beschäftigung mit Vinyl hat ihren Grund: Ich zügelte mein Büro und damit auch die dort beheimatete Plattensammlung. Die immer schon ungeliebten CDs lagern längst in Kisten weggesperrt im Keller, die Platten aber hatte ich stets in einem zugänglichen Regal gehalten. So nahm ich LP um LP in die Hand, um sie in Zügelkartons zu verstauen, und mit jeder wurde eine Scheibe der Erinnerungssalami abgeschnitten. Ich stiess etwa auf eine Sammlung elektronischer Musik, Teile davon nervig-minimalistisch (Pan Sonic) – eine Weile konnte Musik wohl nicht anstrengend genug sein. Dann eine üppige Portion Britpop (Pulp) – stellvertretend für eine wunderbar unbeschwerte Zeit des Daseins («I’m feeling supersonic / Give me gin and tonic», wie es bei Oasis hiess). Eine Schmachtfetzenschicht alter Franzosen und -ösinnen. Eine Weile beschäftigten mich auch Filmsoundtracks (Morricone), viele in dem Plattenladen in der Steinenvorstadt in Basel gekauft, wie hiess er noch gleich? Sowieso, die Plattenläden, die es nicht mehr gibt: «Halb Tanz halb Schlaf»; «Winterschatten» – und in NYC pilgerte man nicht in Museen, sondern zu «Other Music». Plattenläden waren Portale in andere Welten.
Immer tiefer ging es beim Räumen in die Vergangenheit: die heute unerträglich heiter scheinende Phase der Ironie (Weshalb James Last? Und warum zur Hölle Heino?). Dieser zeitlich vorgelagert: der kühl-elegante New Wave, der wiederum aus dem wüsten, wütenden Punk gedieh (Dead Kennedys), der pure Adoleszenzkraft war. Irgendwann stiess ich auf meine allerallererste Scheibe, «Greatest Hits» von Queen, ein Weihnachtsgeschenk meiner Schwester, 1982 wohl. Mit Goldstift und für einen Dreizehnjährigen passend schwulstiger Schrift hatte ich mich auf dem Umschlag verewigt. Mir kam alles wieder in den Sinn.
Schallplatten sind wie Tranchen von Bohrproben tektonischer Schichten eines Lebens. Das Vinyl als Zeitreisevehikel: etwas, das Spotify so nicht zu leisten vermag. So dachte ich meine Boomer-Gedanken, während ich bald Kiste um Kiste hievte und schleppte und bugsierte. Und ich dachte auch: Verdammt schwer, diese Schallplatten, geht ganz schön auf den Rücken – die Jugend von heute hat es leichter.