• Januar 2024

MUSEUM DER ERLITTENEN LEIDEN

Dinge wegzuwerfen ist unschön. Lebensmittel etwa. Es ist eine Tugend, dem Foodwaste entgegenzuwirken, auch schlabbriges und kurz vor dem Schleimzustand befindliches Gemüse noch zu einer feinen Suppe zu verkochen: ein bisschen Curry dazu, ein Schlag Sauerrahm, tipptopp! Und woher hätten die Gäste wissen sollen, dass der ihnen aufgetischte deliziöse Schimmelkäse nicht als solcher gekauft wurde, sondern einst ein ganz normaler Emmentaler war? Und der dazu kredenzte Rioja, der seit einem halben Jahr im Kühlschrank stand? Oxidativer Naturwein erster Güte!

Aber es gibt nicht nur Foodwaste, sondern auch Drugwaste, die Verschwendung von Medikamenten. Allerdings stellt sich hierbei eine radikale Resteverwertung problematischer dar; man kann ja nicht wahllos Tabletten schlucken oder sie seinen Gästen offerieren, bloss weil das Ablaufdatum drängt.

So wie den Kühl-durchforste ich von Zeit zu Zeit den Spiegelschrank im Badezimmer, in dem die Medikamente lagern, die nie grundlos ins Haus kamen, aber über die Zeit in imposanter Menge. Schachtel für Schachtel nehme ich in die Hand, lese die teils poetischen Aufschriften (Mometasonfuroat Kortikoid-Rhinologikum), betrachte die Verpackungen, die mit ihren geometrischen Mustern und klaren Farben an konkrete Kunst erinnern, checke die Ablaufdaten. Viele behalte ich über dieses Ablaufdatum hinaus.

Noch immer etwa bewahre ich eine Packung Sirdalud auf, obwohl das Medikament bereits im Mai 2006 abgelaufen ist. Unklar, ob ich das Muskelrelaxans in der Hoffnung/Befürchtung aufhebe, es wieder einmal verwenden zu dürfen/müssen, also dem Drugwaste entgegenzuwirken, oder aber als schachtelförmiges Denkmal für damals, als ich es verschrieben bekam, ein Souvenir für Schmerz und seine Überwindung. Eine Erinnerung daran, dass dies immer eine Möglichkeit ist: dass etwas vorübergeht. Und ich erinnere mich, eines Morgens lag ich im Bett, unfähig, aufzustehen. Nicht aus Faulheit (wie auch schon), sondern aus einem Grund, den ich später erfahren sollte.

Mit einer frühlingsrollenartigen Drehbewegung wälzte ich mich schliesslich aus der Bettstatt und krabbelte wie ein Käfer zur Tür. Im Spital landete ich bei einem supernetten Arzt namens Pasternak, und ich wollte entgegnen: «Freut mich, Doktor Schiwago.» Aber der Schmerz war zu gross, hatte den schlechten Scherz im Würgegriff, zusammen mit der Angst vor Ursachen und Folgen. Die Gründe waren dann schnell gefunden und simpel: eine Muskeleinklemmung. Ich bekam das Sirdalud und nahm zu Hause eine dieser auffällig kleinen Pillen. Es war mir alsbald, als führe ich mit einem Lift zwanzig Stockwerke hinunter in einen Schlaf so tief und dunkel, wie ich ihn noch nie zuvor erlebt hatte.

Daran erinnere ich mich, lege das Sirdalud zurück in den Schrank. Schon habe ich die nächste Schachtel in der Hand, Tramadol, muss nicht lange überlegen, bis mir einfällt, weshalb dieses potente Schmerzmittel ins Haus gekommen war, dessen Heftigkeit unheimlich war. Dank einer Mountainbikefahrt mit Schuss vom Uetliberg runter direkt ins Triemli auf den Schragen. Das Tramadol ist eine unschöne Erinnerung an Erinnerungslücken, der unfallbedingten Ohnmacht geschuldet, und an eine Handvoll gequetscher Rippen, zu gerne würde ich es in den Müll schmeissen (respektive fachgerecht entsorgen), aber das Ablaufdatum sagt: November 2025. Es liegt also noch die eine oder andere Mountainbikefahrt drin. Und schon habe ich eine Tube Voltaren in den Händen. Voltaren! (Fortsetzung folgt)