MITTAGS ZWÖLF UHR NULLNULL
An einem Tag im Herbst vor neunzehn Jahren betrat ich mit einer Frau am Arm das Zimmer mit dem grossen, leuchtenden Glasscheibenbild von Augusto Giacometti und dem kleinen, dunklen Gemälde von Marc Chagall mit dem Titel «Fiancés». Ich tat dies aus freien Stücken, so wie auch die Frau an meinem Arm es aus freien Stücken tat. Flankiert wurden wir von zwei Freunden, die zu Zeugen wurden. Keine zehn Minuten später verliessen wir das Zimmer wieder, die Frau und ich waren nun verheiratet, es war ruckzuck gegangen, ein paar Worte, ein paar Unterschriften, ein langer Kuss.
Das Zimmer im Stadthaus Zürich heisst offiziell «Trauzimmer», dort werden Ehen zivilstandesamtlich besiegelt. Man kann zwei Termine buchen, «kurz» oder «klassisch», wir dachten, kurz sei lang genug, ausserdem günstiger, und sowieso: die Ehe… dieses Konstrukt… Wir heirateten bloss, um die Dinge zu vereinfachen, denn Nachwuchs war unterwegs. Dass wir für immer zusammenbleiben würden, das war uns eh klar. Von der Stadt gab es als Geschenk einen blauen Kugelschreiber von Caran d’Ache (bloss einen, wohl um eine allfällige spätere Trennung der Güter zu verkomplizieren), und bald sassen wir unter einem anderen, grösseren Chagall, fünfhundert Meter weiter, in der Kronenhalle, beim Mittagessen mit unseren Trauzeugen. Natürlich wäre es günstiger gewesen, beim Bratwurststand am Bellevue einzukehren, aber wir dachten, dass wir uns die erste Mahlzeit als ofenfrisch Verheiratete etwas kosten lassen durften, ja sollten. Zudem war nun die Zeit des Einladens oder des Vermeidens dessen («Oh…ich hab mein Portemonnaie daheim vergessen!») vorbei, solche Kosten wurden ab sofort im vereinfachten Verfahren über das Gemeinschaftskonto abgewickelt. Einer der raren Vorzüge einer Ehe – technisch gesehen.
Seit jenem Tag hat sich die Erde 6940-mal zuverlässig ostwärts um die eigene Achse gedreht, vieles hat sich verändert, manches zum Besseren, manches zum Schlechteren, aber gewisse Dinge blieben gleich – und noch immer sind meine Frau und ich verheiratet und gehen am Hochzeitstag zum Mittagessen in die Kronenhalle, Jahr für Jahr, zwölf Uhr nullnull, ein Tisch für zwei für zwei Stunden Zweisamkeit; und wir studieren die Karte, obwohl wir bereits wissen, was wir bestellen werden: dasselbe wie immer.
Wenige Dinge lassen sich im Leben voraussagen, sogar das von Fachleuten vielgedeutete, aber in seiner Natur doch unberechenbar launische Wetter stellt uns diesbezüglich dann und wann vor Probleme. Was hingegen in der Kronenhalle auf dem Menüplan steht, kann man mit Bestimmtheit prognostizieren, denn es hat sich – abgesehen von den für die Speisen und Getränke verlangten Preisen – in den letzten neunzehn Jahren nur in Petitessen verändert. Deshalb lieben die Leute das Restaurant: wegen der konservativen Konstanz und des damit verbundenen Glaubens, dass in der Welt noch immer alles so ist, wie es stets war – und weil dabei die Hoffnung mitschwingt, dass dem für immer so sein wird. Ganz wie in einer Ehe, Beziehung, Liebe.
In weiteren neunzehn Jahren werden wir hoffentlich wieder in der Kronenhalle sitzen, an einem weiss gedeckten Tisch an diesem einen Tag im Herbst, mittags um zwölf Uhr nullnull, zwei hoffentlich zufriedene alte Menschen, die ihre Suppe löffeln, einmal Bouillon mit Leberknödel, einmal Crème de tomates, die Butter dick aufs Bürli gestrichen. Und draussen wird die Sonne scheinen, und der aufkommende Wind wird die ersten gefallenen Blätter der Bäume durch die Strassen wirbeln. So wie damals. So wie dereinst.