MILBENMIST
Man wird älter und älter und denkt, nun wisse man doch irgendwie ein wenig Bescheid über das Leben und die Welt. Bescheiden zwar das Wissen in Anbetracht dessen, was das üppige Universum ausmacht, logisch – aber immerhin doch grösser als früher, als man jung und dumm war. Bis man feststellen muss: Man hat noch immer keinen blassen Schimmer.
Nicht einmal über seinen eigenen Körper weiss man Bescheid, der sich in seiner Komplexität erst mit den Jahren offenbart. Und man lernt in diesem Zusammenhang neue Wörter kennen, beim Zahnarzt etwa: Knirschschiene. Ein zugegebenermassen schönes Wort: Knirschschiene, in Tat und Wahrheit aber bloss ein massgefrästes Ding aus transparentem Kunststoff, welches man sich nachts zwischen die Zähne schiebt. Denn nachts liegt man nicht ruhig und friedlich im Bett und schläft wie ein Baby, weil das in dieser Welt gar nicht geht. Tagsüber kann man sich noch einigermassen ablenken von den Dingen, die geschehen, man kann verdrängen, aber nachts in der Dunkelheit kommen die Gedanken und lassen einen mit den Zähnen knirschen.
Die Knirschschiene, so hat mein freundlicher Zahnarzt gesagt, hält mich zwar nicht vom Knirschen ab, denn dies könnte vielleicht nur ein durch Meditation oder Ähnliches trainierter Geist, aber das Ding schütze immerhin die Zähne davor, unter den Kräften der mahlenden Kieferknochen zerrieben zu werden. Die dunklen Nächte gehören dem Unbewussten – und den Wesen, die wir von Auge nicht sehen.
Meine ebenfalls freundliche Halsnasenohrenärztin hob die Brauen, als sie die Antwort auf ihre Frage hörte, wie alt meine Matratze sei, im Stimmrechtsalter nämlich. Ich entgegnete: «Aber es ist eine Taschenfederkern-Manufakturmatratze von Schramm! Modell Mythos! Die war so teuer, die wird erst in fünf undzwanzig Jahren amortisiert sein.» Meine freundliche Halsnasenohrenärztin schüttelte den Kopf. Ich hatte sie aufgesucht, weil ich nachts aufwache, da es mich in den Ohren juckt. Dass man nachts aufwacht, um pinkeln zu gehen, das akzeptiert man irgendwann. Aber wegen Ohrenjucken?
Die Gründe dafür hatte meine freundliche Halsnasenohrenärztin schnell gefunden: Hausstaubmilbenallergie. Genauer: Betroffene sind auf den Kot dieser Tiere allergisch. Daher das Jucken in den Ohren. Milbenscheisse! Daher die Niesanfälle. Daher die geschwollenen Augen. Daher das Asthma. Also sofort weg mit der alten Matratze! Denn Federkernmatratzen seien für die Milben All-inclusive-Wellnessoasen, dort fühlten sie sich wie bei Club Med.
Auf dem Heimweg sah ich mir im Internet x-fach vergrösserte Fotos von Hausstaubmilben an. Es sind Viecher, von denen man nachts träumen wird. Und ich las: Ein Mensch verliert täglich locker 2 Gramm Hautschuppen. Diese Menge reicht aus, um 1,5 Millionen Hausstaubmilben für einen Tag zu ernähren. Wobei die Viecher gut gereifte, ältere, saftig durchfeuchtete Hautschuppen gegenüber frisch gefallenen bevorzugen. Und: Eine einzige Matratze beherbergt bis zu 10 Millionen dieser Tiere.
Als ich dies las, juckte es in meinen Ohren, und ich nieste dreissigmal. Exzessives Niesen ist etwas, das nicht nur anstrengend ist, sondern einen in einem öffentlichen Verkehrsmittel derzeit auch nicht sonderlich beliebt macht.
Sogleich bestellte ich eine neue Matratze. Aus Schaumstoff. Mit maximalem Milbenschutz. Und ich wusste, dass ich in dieser Nacht mit knirschenden Zähnen von den x-fach vergrösserten Hautfressern träumen würde, auf denen ich lag – aber besser von denen als von anderem.