• April 2017

​LIEBER BUCHFREUND,

vielen lieben Dank für das Geschenk, welches du in meinem Milchkasten deponiert hast.

Ich finde ja den Milchkasten an und für sich schon gut, schon allein des Umstandes wegen, dass er Milchkasten heisst, wenn aber etwas drinliegt, das für einen bestimmt ist, dann ist er noch viel besser. Und dann auch noch eine Taschenbuchausgabe von «Zauberberg», auf Japanisch! Habe ich beides noch nicht gelesen, weder «Zauberberg» noch je japanisch. Aber ich kann mir schon gut vorstellen, wie ich im Tram sitze, und während alle dumm und doof in ihre Handys glotzen, tue ich so, als läse ich das japanische Buch. Alle, die mich sähen, dächten: «Ui! So ein kluger Mann! Liest Thomas Mann auf Japanisch!» Dabei täte ich in Tat und Wahrheit nichts anderes, als über ganz und gar nichtige Dinge nachzudenken. Aussenwirkung ist alles!
Apropos Aussenwirkung: Ich traf gestern per Zufall unseren gemeinsamen Bekannten D.S., ich sagte: «Hey, hallo, lange nicht gesehen.» D.S. blickte mich mit grossen Augen an, öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn wieder, bis er ihn erneut öffnete. Dann sagte er mit ungläubigem Blick: «Ich hab dich beinahe fast nicht erkannt.» Ich wollte ihm sagen, dass «beinahe fast» zu viel des Guten sei, sagte aber nichts, zuckte bloss mit der Schulter. Er breitete seine Arme aus, weit, als wolle er mich segnen, dann aber beschrieben seine fleischigen Hände an den Enden der Arme einen grossen Kreis, herauf gingen sie, herunter, er stammelte: «Du bist so... so...» Er schwieg. Ich: «Hä?» Er: «... so...» – «Was?» Er tat einen schweren Atemzug, bevor er sagte: «Du bist so dick geworden, ich hätte dich wirklich beinahe fast nicht mehr erkannt.»
Natürlich wäre die einzig richtige Antwort ein Faustschlag gewesen, aber: Ich lehne Gewalt ab. Deshalb ging ich taten- und wortlos weiter, bestieg ein Tram und fuhr aus dem Fenster lugend davon, ertappte mich jedoch dabei, wie ich mir in die Seite kniff, die Haut über der Hüfte griff und dachte: Nie hat man eine Körperfettmesszange zur Hand, wenn man eine bräuchte. Obwohl ich um die Falschheit seiner Aussage wusste, war ich grummelig, denn das Gift von D.S. Worten tat seine Wirkung.
Ich suchte Ablenkung in einer liegen gebliebenen Schundzeitung und dort in einem Artikel, in dem es um den Schlagersänger Stixi geht (der Name übrigens ist keine Verniedlichungsform des mythischen Flusses Styx, sondern seines Nachnamens Stixenberger). Stixi also, bekannt als Sänger des Duos Stixi & Sonja (Hit: «Schätzli, schenk mir äs Foti»), er hat der Zeitung berichtet, dass er nicht mehr schlafen könne, weil er eine Parkbusse von 40 Franken bekommen hatte. «Ich parkierte mein Auto an der Gründenstrasse und warf einen Fünfliber in die Parkuhr, doch er kam immer wieder raus.» Er parkte trotzdem, und prompt bekam er eine Busse. «Ich kann nicht mehr schlafen, so aufgewühlt bin ich.»
Als ich Stixis Zeilen las, da überkam mich ein grosser Trost, denn ich sah: Es gibt noch Menschen mit echten Problemen. Doch bald dachte ich wieder an D.S. und seine Worte und schwor: «Rache! Irgendwie! Irgendwo! Irgendwann!» Und mir fiel eine Szene aus einem Roman von Mordecai Richler ein, ich weiss nicht mehr, in welchem Roman sie vorkommt, auf jeden Fall: Ein eitler und sehr auf seine schlanke Linie bedachter Geck verreist in die Ferien. Diese Abwesenheit nutzt einer, der noch eine Rechnung mit ihm offen hat. Der also bricht in das Haus des abwesenden Rivalen ein. Und was tut er? Er klaut nicht etwa irgendwas, nein: Er räumt einfach alle Anzüge des Verreisten aus dem Schrank und nimmt diese mit nach Hause, ändert sie dort ab, macht sie eine halbe oder eine ganze Nummer kleiner. Dann bricht er erneut ein, hängt die Anzüge fein säuberlich wieder in den Schrank zurück, macht sich aus dem Staub und erfreut sich an der Vorstellung, wie sein Rivale aus den Ferien heimkommt, einen seiner Anzüge aus dem Schrank greift, anzieht und versucht, den Hosenknopf zu schliessen.
Was für eine Rache! Allerdings denke ich, bei D.S. würde dies nichts bringen. Er ist eher der Gummibundhosentyp.


Liebe Grüsse Max


PS: Album zum Thema: «Zauberberg» von Gas, erschienen 1997.