Liebe A.
Das letzte Mal, dass ich dich gesehen habe, das war vor dreissig Jahren oder mehr. Die Erinnerung ist vage, aber was ich noch weiss: Ich war ziemlich verliebt, damals, so wie man verliebt sein kann als Teenager ohne praktisches Vorwissen, also mit steter Schamesröte im Gesicht und juckender Kopfhaut und vor Flauheit leichter Übelkeit, wenn ich dich an der Postautohaltestelle stehen sah oder auf dem roten Tartanplatz. Du warst schön und selbstbewusst, mit geradem Rücken gingst du durch das Dorf, immer sah ich dich fröhlich, und ich war der, der ich war, ein dicker Junge mit Brille und von Katzenflöhen zerstochenen Beinen, ein Bauerntrampel mit unerklärlich riechenden Füssen, der auf einem Hof halb im Wald schon hauste und die Haare von den Schwestern geschnitten bekam, die lieber noch eine Schwester denn einen kleinen Bruder gehabt hätten.
Dann zogst du weg, ich weiss nicht, wohin, ins Welschland glaubs. In den Jahren danach dachte ich dann und wann an dich, wenn es mir schlecht ging vor Liebes- und Allgemeinkummer, fantasierte davon, wie alles hätte anders werden können. Hätte es so etwas wie die Anonymen Adoleszenten gegeben, ich wäre hingegangen. Jedoch ist die Zeit eine zwar schlufige, aber schlussendlich doch verlässliche Verbündete: Irgendwann vergass ich dich und den mit dir gekoppelten Kummer, mehr und mehr, dann ganz und gar.
Bis letzten Sommer. Im Hotel Eden au Lac in Zürich, als ich aus meinem Roman las vor der Moneypenny Society. Zwischen zwei Absätzen hob ich den Kopf und schaute mit halb scharfem Blick ins Publikum. Da sah ich dich – und mir fiel nicht alles sofort wieder ein, aber doch vieles aufs Mal. Holprig las ich weiter.
Wir sprachen nach der Lesung, es gab Champagner und Happen, aber nur kurz bliebst du, musstest heim zu den Kindern und deinem Leben. Nachdem du gegangen warst, da hatte ich eine grandiose Idee: Das wäre der Stoff für meinen nächsten Roman. Genau: Nach dreissig Jahren trifft ein Autor seine Jugendliebe am Rande einer Lesung. Und wie bei einem längst erloschen geglaubten Waldbrand führe der Wind hinein und: Wusch! Die Flammen schlügen hoch. Genial! Sofort machte ich mich daran, die Geschichte zu skizzieren, dachte mir diverse Szenerien aus, abstruse Wendungen, hundert verschieden schattierte mögliche Enden. Und ich war mir sicher: Dieser Roman würde ein Bestseller werden, den sogar das Feuilleton des «Tages-Anzeigers» nicht ignorieren könnte! Ruhm und Reichtum wären die logischen Folgen. Ja, ich konnte mir das alles schon ausmalen in ziemlich hellen, kräftigen Farben und googelte bald eifrig nach erwerbbaren Immobilien am Meer.
Eine Woche später bekam ich von einer Freundin ein Buch geschenkt. «Sozusagen Paris» von einem Navid Kermani. Sie sagte, während sie es mir reichte, ich es griff und sie es noch festhielt: «Es ist toll!» Abends im Bett nahm ich mir vor, die ersten vier Seiten zu lesen, die übliche Dosis, bis ich einzunicken pflege. (Mehr schaffe ich nicht, und ehrlich gesagt: Ich weiss ja nicht, wann all die Leute all die Zeit finden, all die Bücher zu lesen, die sie angeblich lesen. Aber das ist wieder eine andere Geschichte.) Die Geschichte des Buches ist die: Ein Schriftsteller hat ein Buch geschrieben über seine Jugendliebe, dann trifft er zufällig nach einer Lesung aus ebenjenem Buch ebendiese Jugendliebe, dreissig Jahre nach dem Letztkontakt. Die Vergangenheit, die Gegenwart und so etwas wie die mögliche Zukunft gehen dann einen trinken. Ja, darum geht es.
Mit zunehmendem Ekel las ich weit über die übliche Schlummerdosis hinaus im geizigen Licht der Nachttischlampe, bis irgendwann das Buch mit Heftigkeit durch den Raum geschleudert wurde, von meiner Hand, begleitet von ein paar Flüchen, aus meinem Mund, und das Buch an der Wand auftraf, den Rücken brach. Meine Frau erwachte vom Gepolter, setzte sich auf. «Was ist los?» – «Ach nichts, bloss ein misslungenes Buch. Ich musste es töten.» Beruhigt murmelnd schlief meine Frau wieder ein, noch lange aber lag ich wach, wütend, schnaubend, betrogen um ein schönes Stück Zukunft, wieder einmal.
Tja, so wird das halt schon wieder nichts mit uns zweien. Bis wieder in dreissig Jahren?
Lieber Gruss, Max
PS: Song zum Thema: «Teenage» von The Brilliant Corners, gefunden auf «Heart On Your Sleeve: A Decade in Pop 1983–1993».