• April 2017

​AUF DEM HOLZWEG

Gründe gab es schon lange. Gründe gab es genug. Gründe, einfach das zu tun, was ich schon lange tun wollte: mal alles hinter mir lassen. Die Menschen. Den Lärm. Die Enge. Die Stadt. Das Gewusel. Das Leben, wie man es kennt.

Also setzte ich mich an einem Herbstmorgen in ein Flugzeug, dem ich zweitausend Kilometer später wieder entstieg. Ich sass dann ein paar Stunden auf nicht zu bequemen Sitzen herum, schaute auf das Treiben auf dem Flughafen von Helsinki-Vantaa, trank ein Lapin Kulta, bestieg erneut ein Flugzeug, es war mässig besetzt und kleiner als jenes, das mich hergebracht hatte. Als wir landeten, war es später Nachmittag, und über das Rollfeld ging es zu Fuss zur Ankunftshalle von Ivalo, dem nördlichsten Flughafen der Europäischen Union.
Ein müder, bärtiger Mann stand am Mietwagenstand, sonst war kaum Betrieb in der Ankunftshalle, es kamen nicht viele Leute hier hoch, jetzt, im Herbst. Ich nahm einen Mietwagen, einen zuverlässigen Skoda Octavia, robust und gross genug, dass eine Kollision mit einem Elch glimpflich ausgehen könnte, hievte meinen Rucksack in den Kofferraum, noch war Tageslicht da, auch wenn der blaue Himmel ein blosses Versprechen war. Bald war ich unterwegs, bald fuhr ich der kurvenreichen Strasse am Ufer eines Sees entlang, kaum ein Wagen kam mir entgegen, kaum ein Haus war zu sehen, wenig, was auf Menschen hindeutete, dafür Bäume, Bäume, Bäume, deren Blätter in den unterschiedlichsten Farben leuchteten. Man nennt die Zeit des Herbstes in Finnland ruska, anderswo Indian Summer. Sträucher und Bäume verfärben sich innert Kürze auf dramatische Art und Weise. Von tiefstem Grün über hellstes Gelb hin zum dunkelsten Rot leuchten die Blätter der Bäume und der Büsche. Und so war es auch. Ein wahrlich betörendes Schauspiel, welches jeweils nur wenige Tage andauert und vom nahenden Ende kündigt: Die Bäume benötigen die Blätter nicht mehr, entziehen ihnen den Saft, die Liebe, lassen sie zu Boden gleiten, wo sie vermodern, bis der Schnee alles zudeckt.
Ich parkte vor einem Hotel, sog die Luft ein, es roch nach Harz. Ich befand mich nun 250 Kilometer nördlich des Polarkreises, in Inari, einem Dorf mit 450 Einwohnern, umgeben von Wildnis, menschenleer.
Ich nahm ein Zimmer, es war einfach, aber sauber und sympathisch und natürlich mit einer im Badezimmer eingebauten Kleinstsauna. Durch das Fenster hörte ich einen Fluss rauschen, den Fluss, dessen Namen ich auszusprechen versuchte – Juu-tu-an-jo-ki – und mir nie würde merken können, durch die Bäume gedämpft vernahm ich die tosenden Stromschnellen. Zum Abendessen ging ich ins Hotelrestaurant, das leer war, bis auf zwei Tische mit Touristen aus Japan, die keine Notiz von mir nahmen. Auf der Menükarte gab es nur lokale Gerichte, und als die Bedienung die Bestellung aufnahm, schob ich meinen Finger auf Kevyesti savustettua poron sydanta, männynhavuvinaigrette, marinoitua vainonputkea, piparjuurjogurttia ja naavaa und lächelte, auch die Bedienung lächelte und beglückwünschte mich zu meiner klugen Wahl: rohes Rentierherz, kurz geräuchert, mit Kiefernnadelvinaigrette und Tannenbaumflechte. Es schmeckte gut. Zum Einschlafen liess ich das Fenster offen, obwohl es kühl wurde, der Fluss erzählte gar viel.
Am Morgen machte ich mich auf den Weg zum Otsamo, dem Hausberg der Region. Eine gute Stunde ging ich bereits, als mir einfiel, dass ich schon alles gedacht hatte, was es zu denken gibt. Anfangs hörte ich noch die Strasse in der Ferne, auf der ab und an ein Wagen vorbeifuhr, bald hörte ich bloss noch den Fluss, der sich linker Hand hinter den ausgezehrten Bäumen und den harten Sträuchern versteckte. Ich dachte: Zum Glück hat man noch ein paar Probleme im Leben, an die man denken kann, denn sonst würde mir langweilig hier oben. Aber irgendwann waren auch diese Probleme sortiert. Ich ging und ging und ging, und es kehrte grosse Ruhe ein im Schädel droben, der mir bald so leer vorkam wie die Ankunftshalle des Flughafens von Ivalo.
Die Natur der niedrigen Wälder in jener kargen Gegend ist von beinahe hypnotisch repetitiver Schönheit: verwachsene Felsbrocken, fratzenhafte Findlinge, mannshoch und höher manche, krüpplige Bäume, Beerensträucher, Moos und Flechten aller Art. Und nirgendwo ist jemand. Kein Wanderer. Keine Spaziergängerin. Kein Rentier. Kein Lemming. Nicht einmal ein Bär kommt des Wegs, um mir mit der Pranke die Haut vom Kopf zu fegen. Ein paar Vögel zwitschern. Äste knacken unter den Schuhen. Der Weg steigt sanft an, der Rücken des Berges nimmt seinen Anfang.
«Danke», sagte plötzlich der Wanderschuh, der Meindl, es war der linke. «Ja», pflichtete ihm der rechte bei. «Wofür?», fragte ich. «Dass du uns wieder mal in die Natur gebracht hast. In die richtige Natur. In die Wildnis.» – «Ach», sagte ich, «gern geschehen. Ist doch nichts dabei.» Noch eine Weile plauderten die Wanderschuhe über die Schönheiten Lapplands und dass sie im letzten Leben wohl Lappen gewesen sein mussten, so wohl sei ihnen hier, dann schwiegen sie wieder, schmatzten nur dann und wann im sumpfigen Grund, es klang wohlig.
Aber ich war nicht bloss auf dem Weg zum geografischen Ziel, dem Otsamo, höchster Gipfel weit und breit, mehr als 400 Meter über den Meeresspiegel aufragend, war nicht bloss auf der Suche nach Ruhe, Stille, Einsamkeit, sondern mein Blick war mit einem gewissen Eifer auf den Boden gerichtet. Ich suchte nach etwas Kleinem. Nach Pilzen. Genauer: einem Pilz. Matsutake sein Name, und das Aussergewöhnliche an diesem Pilz ist, dass er eigentlich bloss in Japan wächst und dort der beliebteste Wildpilz überhaupt ist (besonders schöne Exemplare erreichen Kilopreise von über tausend Franken). Will man in Japan Eindruck schinden, dann schenkt man einen schön proportionierten Matsutake. Aber eben: Er wächst kurioserweise auch in Lappland. Ein Freund hatte mir davon erzählt. Er verbringt jedes Jahr eine Woche im hohen Norden und sucht den Pilz. Zwar habe ich von Pilzen keine Ahnung, aber ich liess ihn mir von meinem Freund genau beschreiben, hatte mir in der Heimat ein spezielles Pilzmesser besorgt mit gekrümmter Klinge und rauem Klingenrücken zum Entfernen von grobem Schmutz und natürlich einer eingebauten Pilzbürste. Ausserdem erstand ich im Shop des Samenmuseums in Inari ein Buch: «Sieniopas – ‹Taskukirja sienten tunnistukseen›» steht auf dem Umschlag. Keine Ahnung, was die Worte bedeuten, aber es gibt eindeutige Fotos: Es ist ein Pilzführer. Und ich wusste, wie der Matsutake auf Finnisch heisst, nämlich männyntuoksuvalmuska.
Nun war ich wohl drei Stunden unterwegs und hatte noch keinen Matsutake gesehen, bloss einen tarhamukulakuukunen, einen myrkkynääpikkä, einen kangaskärpässieni und – nicht zu vergessen – einen suippumyrkkyseitikki. Allesamt üble Bauchschmerzen verursachende bis todbringende Exemplare. Aber ich hörte Vögel, deren Namen ich nicht kannte, hörte meine Schritte, sonst nichts. Unterwegs ist man nicht allein, man hat ja ein Ziel, und dieses ist es, nicht vom Weg abzukommen. Allerdings ist der Weg auf den Otsamo recht gut markiert, und über die sumpfigen Passagen führen Planken. Sollte man den Pfad jedoch verlieren, so könnte es sein, dass man sich verläuft und geht und geht, bis man tot umfällt. Man würde nichts antreffen, ausser Birken, Espen, Fichten, man würde über Flechtenteppiche schreiten, dann und wann träfe man auf einen Fluss, einen Strom, vorbei ginge es an Seen, Tümpeln, über Moore. Und wenn man wieder aus dem Wald käme, dann läge dort ein anderes Städtchen, das im Wappen einen Bären zeigt, der einen Lachs in den Pranken hält und lächelt. Der Ort hiesse Anadyr – und er läge dort, wo die Welt zu Ende ist, in Sibirien. Also wusste ich: Immer schön auf die Markierungen achten! Und dann wurden die Bäume weniger, der Wald lichter, der Grund steiniger, der Weg steiler. Bald liess ich die letzten Kiefern hinter mir, dann die Birken, bald war die Baumgrenze überwunden, waren da nur noch Sträucher, dann bloss noch kriechendes Kraut, Moos und Flechten.
Vom Otsamo geht der Blick weit. So steht es im Wanderführer: «Grandiose Aussicht über den See sowie die umliegende Landschaft.» An jenem Tag aber nicht. Es war eher etwas für Freunde des dichten Nebels, und ja: Der Nebel hat durchaus etwas Beruhigendes, wie er die Landschaft verschluckt, die vor einem liegt, nach Metern schon, so verschluckt er auch einen selbst. Aber still war es nicht: Der Wind ging auf dem Gipfel, zum Glück war da eine Hütte, einst gebaut als Brandwächterhaus mit Terrasse auf dem Dach, auf dem Förster nach Waldbränden Ausschau hielten, bevor die Überwachung aus der Luft deren Dienst übernommen hatte. In der wettergrauen Stube stand ein grober Tisch, darauf das Otsamo vieraskirja, das Gipfelbuch, darin stand bald mein Name, mit Kugelschreiber geschrieben. Auf dem Weg zurück sah ich niemanden, auch als der Pfad wieder zum Weg wurde, der Weg zur Strasse – und der erste Mensch, der mir begegnete, das war ich selbst im Badezimmerspiegel des Hotelzimmers, als ich aus der Sauna kam, der Kopf rot wie ein frisch gekochter finnischer Flusskrebs. Draussen war es dunkel. Ich schaute auf die Uhr: Zeit, sich auf den Weg zum Hafen zu machen.
Geisterweiss lag das Boot im schwarzen Wasser von Inari, im Lichtkegel einer Taschenlampe wies Tapani den Weg über den glitschigen Holzsteg. Tapani organisiert dies und das für die wenigen Touristen, die sich auf die Handvoll Hotels der Gegend verteilen. Im Sommer Angeltrips, im Winter Schneemobilabenteuer auf dem gefrorenen See. Dazwischen läuft nichts. In dieser Nacht waren es ausser mir bloss zwei ältere japanische Frauen, die die Bootstour gebucht hatten: Nächtliche Nordlichter, hundert Euro.
Wir tuckerten eine Stunde, die Nacken schon starr vom In-den-Himmel-Gaffen. «Not lucky», sagte Tapani, und aus den Japanerinnen stieg ein Brummeln der Enttäuschung hervor. Die Nordlichter seien da, sagte Tapani, wir würden sie bloss nicht sehen. Die Wolken. Der Regen. Tapani beschleunigte das Boot, meinte: Vielleicht findet sich irgendwo ein Loch im Himmel, man weiss ja nie, die Hoffnung stirbt zuletzt, und dann tauchte in der Schwärze etwas auf, etwas noch Schwärzeres, wurde grösser. Tapani drosselte die Maschine, das Boot dümpelte, und riesenhaft lag vor uns ein aus dem Wasser ragendes Etwas wie ein dunkles Wesen mit gezacktem Rücken. Ein Ungeheuer? «Ukonkivi», sagte Tapani und liess es klingen wie einen Zauberspruch. Eine Insel, die ein Berg ist. Ein Berg, der eine Insel ist, bewaldet, unbewohnt, aber nicht ohne Leben. Tapani warf den Suchscheinwerfer an, liess das kümmerliche Licht über den Fels und die Bäume zittern und sagte: «Dreissig Meter hoch, hundert Meter lang, ein heiliger Ort, war früher eine Opferstätte, Ukko geweiht, dem Gott des Donners und dem wichtigsten Gott der Samen.» Langsam umkurvten wir die Ukonkivi. Wie Arnold Böcklins «Toteninsel» lag sie da. Die Japanerinnen brummelten. «Aurora?», erkundigte sich eine. Tapani hob den Kopf, blickte in den Himmel, skeptisch. «No. Not lucky tonight», sagte er. Ukko schwieg. Und als Tapani das Boot wieder beschleunigte, da verlor ich für einen Moment das Gleichgewicht, stiess mir das Knie an der Reling so heftig, dass vor Schmerz für eine Sekunde die Nacht ganz hell wurde. Und mir wurde klar, dass ich am nächsten Tag weiterfahren musste, mit dem Auto weiter an den Rand, dorthin, wo es noch weniger Menschen gab, am besten in östlicher Richtung, wo Europa zu einem Ende kommt und die Strassen ebenfalls, hin zum Niemandsland der russischen Grenze.
Am nächsten Morgen lud ich früh mein Gepäck in den Wagen. Ich wollte auf meinem Weg nach Osten noch Pekka treffen, den Freund eines Freundes eines Freundes. Winters arbeitete Pekka früher für den Reifenhersteller Michelin, die hier oben Winterpneus testen. Deswegen kommen die Menschen hier hoch: um Autos und Pneus zu testen unter extremsten Bedingungen. Sommers aber gab es keine Jobs, also zog Pekka in den Süden, um als Strassenbauer zu arbeiten. Nun ist er zurückgekehrt mit Frau und Kind. Er fand eine Anstellung auf dem Flughafen, aber dies war nicht der Grund, sondern etwas anderes. Etwas, das stärker ist als alles andere: der See.
Pekka hatte sofort zugesagt, als ich ihn am Telefon gefragt hatte, ob er mir den See zeigen wolle. Etwas müde winkte Pekka grüssend am Hafen von Lapinleuku, aber er lächelte, denn er war glücklich. Er hatte dreissig Autofahrstunden in den Knochen und nur wenig geschlafen. Eben kam er aus Turku zurück, wo er ein neues Boot gekauft hatte. Er war also mit dem leeren Anhänger nach Turku gefahren, zwölfhundert Kilometer weit ans andere Ende des Landes, dann wieder zurück – und nun lag sein neues Boot am Hafen und sah genauso aus wie das Boot, das er schon besass, ebenfalls eines der Marke Bella.
Also sagte ich: «Es sieht genau gleich aus.» – «Es ist auch dasselbe Boot.» – «Zweimal das gleiche?»-«Nein.» – «Warum nicht?» – «Es hat einen anderen Motor.» – «Einen anderen Motor?» – «Ja. Einen von Honda.» – «Das ist alles – ein anderer Motor?» – «Ja», sagte Pekka, «das ist alles.» – «Ist er stärker?» – «Nein?» – «Ist das neue Boot schneller?» – «Nein.» «Leiser?» – «Nein.» – «Lauter?» – «Nein.» – «Was ist denn anders?» – «Man kann damit besser fischen.» – «Wegen des Motors?» – «Ja.» – «Weshalb?» Pekka antwortete nicht. Eine Weile schwiegen wir und betrachteten die beiden Boote, welche im dunklen Wasser des Sees dümpelten. «Es ist schwierig zu erklären», sagte Pekka, der nun zwei Boote besass, die identisch waren, mal abgesehen vom Motor, «aber lass uns fahren.» Und wir bestiegen sein altes Boot und fuhren auf den See hinaus mit seinen dreitausend Kilometern Küstenlinie, gefüllt mit dreitausend Inseln, manche davon nicht grösser als ein Ameisenhaufen. Über das Dröhnen des Motors hinweg erzählte Pekka, sein Vater sei Postbote gewesen, deshalb kenne er den See seit seiner Kindheit, denn früher waren manche der Inseln noch bewohnt. Also wurde die Post mit dem Boot gebracht. Zwei Tage dauerte die Tour von Pekkas Vater. Und so manches Mal war Pekka mit dabei, als Knirps, als Junge, als Bursche, und so wurde Pekka ein Teil des Sees und der See ein Teil von Pekka. Er sagte: Sommers, wenn die Nacht nicht mehr existiere, wenn es keine Dunkelheit gebe, sondern nur das Sonnenlicht, dann sei er allein hier draussen, und er vergesse den Morgen, vergesse den Abend, alles löse sich auf, er sei dann auf seinem Boot, er fische, er schlafe, er blicke hinaus, er kurve um die Inseln, lege an, lege los, und irgendwann fahre er zurück und merke, dass Tage vergangen seien, obwohl es sich anfühle wie Stunden bloss. Die Zeit löse sich auf, auch man selbst löse sich auf. Die Rückkehr sei dann nicht immer ganz so einfach. Im letzten Jahr lief die Maschine im Heck seines Bootes fünfhundert Stunden.
Ich erzählte ihm, dass ich schon zwei Tage zuvor auf dem See gewesen sei, nachts, mit einem Touristenboot, um die Mitternachtssonne zu sehen. Pekka nickte wissend. Ich sagte: «Hundert Euro kostete der Ausflug, ein paar Japaner waren auch dabei, alle standen in der Kälte der Nacht und blickten mit weit zurückgeworfenen Köpfen in den Himmel. Gab aber keine Mitternachtssonne.» Pekka schwieg und lächelte, dann sagte er: «Tapani fährt ein teures Auto, oder?» Dann schwiegen wir beide, als das Boot durch den See pflügte, eingelullt vom Motorendröhnen, leisen Vibrationen und der feinen Musik des Wasser, bis Pekka den Arm hob, hinauszeigte. «Leviä Petäjäsaari», sagte er. Wir steuerten eine Insel an, Pekka drehte bei, legte an einem Steg an. Auf der Insel standen ein paar schwarze Holzhütten, davor eine Feuerstelle. Jedermann darf die Hütten gebrauchen, die Feuerstelle sowieso, so ist das hier in der Wildnis: Alles für alle. Und nun zeigte mir Pekka, wie man fischt, denn ich sollte das Mittagessen an Land ziehen. Also hielt ich die Rute so, wie Pekka es mir zeigte, warf, liess die Rolle sausen, holte ein, nicht zu schnell, nicht zu langsam, und ein jedes Mal war der Haken leer. Also warf ich erneut aus. Holte ein. Hundertmal. Hörte, wie Pekka das Holz spaltete mit wuchtigen Hieben. Bald loderte das Feuer. Und als das Holz zu Glut geworden war, da griff Pekka in seinen Rucksack und holte etwas heraus. «Makkara», sagte er. Es waren zwei Würste, die er in weiser Voraussicht im Supermarkt gekauft hatte, bald steckten sie auf Stecken, waren nicht mehr bleich, und Pekka erzählte von der Bärenjagd, auf der er gewesen war in der Woche zuvor, die erfolglos verlaufen sei, jedoch: Was macht schon eine erfolgreiche Jagd aus? Ich sagte zu Pekka, ich sei froh, keinen Fisch aus dem See gezogen zu haben. So stehe mir dies noch bevor. Pekka lächelte freundlich, blickte hinaus auf den See. Um das Thema zu wechseln, fragte ich ihn, ob seine Frau nicht manchmal eifersüchtig sei auf den Inarijärvi. «Oh doch», sagte er und nach einer Weile nochmals: «Oh doch.» Und dann, nach einer Weile des Schweigens und hundert Gedankengänge später, vielleicht aber auch bloss einen Gedankengang später, da sagte Pekka, ich müsse im Winter nochmals kommen, wenn der See gefroren sei, dann würden wir mit dem Motorschlitten rausfahren und ein Loch in das Eis sägen und fischen, das sei ein grosser Spass. «Grossartig!», sagte ich, aber ich wusste, dass das nicht stimmt, denn ein Freund hatte mir erzählt, wie das ist mit dem Eisfischen: Kalt. Verdammt kalt. Man meint, die Füsse fallen einem ab. Und wenn man dann ein bisschen stapft, um die Eiseskälte zu vertreiben aus den gefühllos gewordenen Fusssohlen, dann schauen die Einheimischen böse, denn: Man darf sich nicht bewegen, der Trittschall vertreibt die Fische.
Als es eindunkelte, setzte mich Peka am Hafen ab. Etwas ratlos stand ich rum, fühlte mich seltsam verloren, wie aus der Zeit gefallen. Zum Glück sah ich ein verwittertes Schild. «Hotel» stand darauf. Und: «1,8 km». Ich sprang sofort in den Wagen. Die Strasse führte aus dem Dorf hinaus, wurde schmaler, dafür stieg die Zahl der Schlaglöcher. Es ging hoch, und es ging runter und um Kurven, kein Wunder, so dachte ich, kommen die besten Rallyefahrer aus Finnland. Linker Hand tauchte der See hinter den Bäumen auf, verschwand wieder, tauchte wieder auf, und dann endete die Strasse vor ein paar Gebäuden. Niemand war zu sehen, kein Mensch, kein Tier. Ein rostiger Geländewagen stand dort, wer weiss wie lange schon. Das Hotel musste wohl geschlossen haben, dachte ich, vielleicht war es schon vor Jahren in Konkurs gegangen. Ich stieg erst gar nicht aus und wollte schon wieder losfahren, um nach einer anderen Bleibe zu suchen, bevor die Nacht kam. Dann sah ich Licht in einem der Fenster.
Ächzend öffnete sich die Türe aus Holz, ich trat in einen niedrigen Gastraum, düster, der Boden aus grossen Steinplatten, die Decke wie die Wände aus ganzen Baumstämmen, Tische und Bänke ebenfalls. Der Duft von Apfelkuchen breitete sich aus, und eine alte Frau erschien, klein, hutzelig, eine Schürze umgebunden. Sie spreche kein Englisch, sagte sie mit den zwei Worten Englisch, die sie sprach, aber sie nickte, als ich nach einem Zimmer fragte, holte einen Schlüssel und wies mir den Weg zu einem Nebenhaus, ebenfalls aus groben Holzstämmen erbaut.
Das Zimmer war eine Kammer aus Holz und Fels, und man sah sofort, dass alles von derselben Hand errichtet, gebaut, gesägt, geschnitzt worden sein musste, sogar der Lampenschirm war aus Holz. Die alte Frau zeigte mir pantomimisch, wie ich den Kamin im Zimmer anzuzünden hätte, dann kramte sie einen Zettel aus der geblümten Schürze, einen Kugelschreiber, sie schrieb «18.00» auf den Zettel und gab mir zu verstehen, dass dann gegessen würde. Ich nickte, und sie verschwand wortlos. Ich zündete ein Feuer an. Es dauerte ein Weilchen, bis der Kamin zog, der Raum füllte sich mit beissendem Nebel, dann plötzlich, als besinne sich der Rauch, was er zu tun habe, wohin er gehöre – «puff!» –, verschwand er gespensterhaft rasch durch den Abzug.
Pünktlich betrat ich das Haupthaus und war, was ich bleiben sollte: der einzige Gast. Bald standen Platten auf dem Tisch mit Rentiergeschnetzeltem, Stampfkartoffeln und Preiselbeeren, Schwarzbrot und Butter, alles in enormen Mengen. Zum Dessert den Apfelkuchen, den ich gerochen hatte, als ich angekommen war. Einen Schnaps später lag ich im Bett. Das Feuer im Kamin erstarb. Die glühenden Scheite knacksten noch. Sonst war in der Dunkelheit nichts zu hören. Bloss noch das Rauschen des Blutes in meinen Ohren. Und dann, mit einem leisen Fauchen, loderte die Flamme wieder auf, ein Luftzug blies das Feuer wieder an, die Flammen flackerten, und ab und an spotzte die Glut im Kamin, und ich fiel in einen schweren Schlaf, während draussen die Nacht die Bäume zudeckte und die Steine und den See und eine jede Insel darauf.
Am nächsten Morgen fuhr ich weiter Richtung Osten, fuhr an einer Huskyfarm vorbei, das Gekläff und Gejaule und Geheule war unheimlich, eindringlich, als wäre die Meute hinter mir her, die Strasse wurde schlechter, bald war die Farbe meines Wagens nur noch zu erahnen. Ich fuhr, bis die Strasse zu Ende war, parkte, band die Wanderschuhe fest, griff den Rucksack und ging los. Auf Informationstafeln las ich: Während des Zweiten Weltkriegs war der Ort hier strategisch wichtig, wegen eines Punktes rund neun Kilometer östlich, wo heute die Bäume mit gelben Bändern markiert sind, die bedeuten, dass man eine Sperrzone betritt: die Grenze zu Russland. Heu te führt ein Pfad zu jenem Punkt namens Rautaportti, dem Eisernen Tor, wo die Wehrmachtsoldaten nur Meter entfernt von den Russen in ihren Stellungen lagen, beiderseits eines Felseneinschnitts, und wo früher das Holz aus dem See geflösst wurde, denn hier ist ein Nadelöhr der Bedeutsamkeit: der Zugang zum Eismeer.
Mein Weg war aber noch nicht zu seinem Ende gekommen, also ging ich immer weiter und weiter, setzte einen Fuss vor den anderen, und es schien mir so, als würde ich zum ersten Mal in meinem Leben nur noch aus einem Körper bestehen, ein Körper, der sich durch diese Natur bewegte, ohne einen einzigen Gedanken im Kopf, so lange, bis es nicht mehr geht. Aber irgendwann musste ich mich setzen. Dann waren sie wieder da, die Gedanken. Ich dachte über die Einsamkeit nach, versuchte mich an die einsamsten Momente in meinem Leben zu erinnern. Als ich im Meer vor Sri Lanka von einer Strömung erfasst wurde und fast ertrinkend all die fröhlichen Menschen am Strand sah. Oder als ich am Bett eines geliebten Menschen sass, wissend, dass dieser Mensch sich nicht mehr von diesem Bett erheben würde, und das Ticken einer Wanduhr im Zimmer die vergehende Zeit unsinnig hart in Sekunden teilte? Oder war es die halbe Stunde in einem schalltoten Raum, wo die Stille absolut war, ich nichts mehr hörte, ausser: mich selbst. Denn wo nichts mehr ist, da ist immer noch der Mensch, der man ist. Und der macht Lärm: das Blut, vom Herzen durch den Körper gepumpt; die Säfte im Leib; das glucksende Gedärm. Wenn man nur noch sich selbst hört, dann ist man ziemlich einsam, aber ruhig ist es nicht. Oder war der einsamste Moment in meinem Leben eben jetzt? Hier im östlichsten Zipfel des nördlichsten Zipfels Finnlands? Es piepste. Mein Handy. Ich fummelte es aus einer Tasche – eine Warnung: Der Akku fast leer. Egal. Ich nahm einen letzten Schluck aus der Trinkflasche. Ich ging weiter auf dem Pfad, merkte aber, dass ich schon längere Zeit keine Markierungspfähle mehr gesehen hatte. Und dieser von Moos überwachsene Fels, der aussah wie der Schädel eines Riesenaffen – hatte ich den nicht eine Stunde zuvor bereits gesehen?
Der Wald wurde dichter und dunkler. Ich stolperte über zähes Gebüsch, fiel hin, stand auf, ging weiter und weiter, denn ich hatte alles dabei, was ich brauchte, ich ging, bis ich vollkommen verloren war in der grossen Natur, dann setzte ich mich auf den Waldboden und wartete.