Lieber Klumpen
ins Bergell fuhr ich. Mit dem Auto. Via Splügen. Auf dem Pass oben im See noch Eis. Die Fahrt hinunter nach Chiavenna: unglaublich, diese Kurven, Kehren, Wendungen und Windungen des Weges, diese Enge der Strasse, diese grob in den Fels gehackten Tunnels, in denen die kalte Nacht gefangen gehalten wird, diese entgegendonnernden Motorradfahrer auf ihrem Weg gen Himmel. In Chiavenna unten, endlich, Palmen und Hitze und eine Ahnung, dass der Süden mit all seinen verlockenden Versprechungen nicht so weit ist, obwohl die noch immer weissen Berge über einem aufragen. Rückfahrt dann via die weitgehend gezähmten Pässe Maloja und Julier. Der Lai da Marmorera nach Bivio gar kein See, sondern ein Loch, weil entleert, wie eine graubraun-dreckige Badewanne, das Ufer wie mit Jahresringen versehen und das spärliche Restwasser von einem Grün wie Aktenschränke in einem Militärspital.
Und dann vor mir auf der sich talwärts windenden Strasse, unüberholbar wegen Kurven und Gegenverkehr und gesundem Menschenverstand meinerseits, ein Güggeliwagen ausser Dienst. Ich hatte recht viel Zeit, diesen Güggeliwagen zu studieren und zu lesen, was dort geschrieben stand auf der Hinterseite des Transporters, dass man nämlich für die «Durchgar-Garantie +70 °» einstehe. Es gibt viele schöne Worte, aber «Durchgar-Garantie» schoss bei mir sofort in die Top Ten, nistete sich dort auf Rang sechs ein – zwischen «Flachbettscanner» und «Schlafittchen». «Durchgar-Garantie»: Ein tolles Wort, doch, doch – jedoch, so dachte ich kurz nach Tinizong, sicherlich sehr blöde, wenn man stottert.
Zu Hause las ich gleich nach, was es mit der geheimnisvollen «Durchgar-Garantie +70 °» auf sich hat. Das Fleisch von geschlachteten Hühnern scheint gesundheitstechnisch sehr heikel zu sein. Bei der Zubereitung ist hygienische Sorgfalt erfordert. Erst ab einer Kerntemperatur von siebzig Grad sei man auf der sicheren Seite, schreibt die Güggelifirma, was etwa Campylobacter und Salmonellen betreffe, beides auch hübsche Worte, Letzteres an Fischkonserven erinnernd, Ersteres an irgendwas Cooles mit Camping. In Wahrheit aber sind es böse Worte.
Im Zuge dieser Recherche stiess ich auf eine Aufklärungskampagne der britischen Food Standards Agency (kurz FSA), welche dringend davor warnt, in der heimischen Küche rohes Geflügel unter fliessendem Wasser zu waschen. Denn das Spritzwasser habe einen allgemein gern unterschätzten Wirkungsradius von bis zu drei Metern und könne so in feinsten Tröpfchen die Krankheitserreger von der Hühnerhaut in der Küche verteilen, auf Küchentücher, andere Lebensmittel oder auf die eigene Nasenspitze spritzen. Und schon ist man infiziert und hockt bald jammernd und jaulend auf der Toilette, und die Erde erzittert und bebt, als liesse man einen Stausee leerlaufen. Ursache einer Campylobacter-Infektion sei in vier von fünf Fällen Hühnerfleisch. Zudem, so schreibt die FSA: Fünfundsechzig Prozent der in Grossbritannien verkauften Hühnchen seien mit Campylobacter kontaminiert. Pro Jahr stürben hundert Menschen an den Folgen einer Campylobacter-Infektion, und dem britischen Gesundheitswesen entstünden jährlich Kosten von einer knappen Milliarde Pfund. Es lägen gar Studien vor, nach denen eine Infektion schon durch blosses Anfassen eines abgepackten Huhns im Supermarkt erfolgen kann.
Und als ich dann Hunger hatte, trotz all der erschreckenden Dinge, die ich erfuhr, da ging ich nicht zum Thailänder um die Ecke, bei dem das Hühnerfleisch aus Brasilien kommt, was den Kunden aber offenbar total egal ist, denn Mittag für Mittag stehen sie dort in Schlangen an, um bald das weisse Fleisch der toten Hühner aus Brasilien zu verschlingen. Nein, ich schnitt Scheiben vom Zweikiloklumpen Bresaola auf, welchen ich eigentlich für dich als Geschenk in der Metzgerei Fratelli Del Curto an der Via Francesco Dolzino 129 in Chiavenna gekauft hatte. Mal sehen, ob etwas übrig bleibt. Ga-Ga-Garantie gi-gi-gibt es in dem Fall keine.
Beflügelt, Dein Max
PS: Song zum Thema: «Steak for Chicken» von The Moldy Peaches vom Album «The Moldy Peaches», 2001