LIEBER MONSIEUR FROIDEVAUX,
Sie waren mein Französischlehrer, lange ist es her, und ein bisschen weniger lange ist es her, da erwähnte ich Sie in einem Artikel, ich glaube, es ging um den Walkman, weil: Sie waren ein grosser Gegner des Walkmans, damals, als der gerade erfunden worden war. Diese neue Möglichkeit des mobilen Kopfhörer-Eskapismus prangerten Sie heftig an. Nun ja, ich schrieb in jenem Artikel über «meinen Französischlehrer, dessen Name auf Deutsch ‹kaltes Kalbfleisch› bedeutet». Kurz darauf bekam ich von Ihnen einen Brief, in dem Sie mich freundlich darauf hinwiesen, dass «vaux» nicht «Kalbfleisch» heisse, sondern «Tal» im Plural. Sie meinten zudem, dass es Sie als meinen ehemaligen Lehrer zwar etwas enttäusche, jedoch nicht verwundere, dass mein Französisch noch immer war, wie es zur Schulzeit gewesen war, nämlich: miserabel.
Ja. Die französische Sprache und ich, wir waren und wurden niemals dicke Freunde – noch nicht einmal gute Bekannte. Irgendwo ging ich ganz und gar verloren zwischen Pubertät, Passé récent, Futur proche und dem Sprachlabor, dieser tonbandkassettenbasierten Folterkammer.
Der französischen Sprache und der ihrer Erlernung innewohnenden Problemchen und Probleme wegen schwoll in mir ein Groll, der seither in mir ist. Ich mied Frankreich als Reise- und Urlaubsland grösstenteils, zog andere Länder vor – bis ich vor vier Tagen ein Zimmer in einem Hotel in Vence bezog, einem Ort, etwas oberhalb von Nizza gelegen. Ein Freund hatte mich dazu überredet. «Rennvelo-Ferien. Alles organisiert. 899 Euro für eine Woche mit sieben geführten Touren in drei Leistungsklassen, Mittagessen inklusive und abends Technik-Workshops! Was für ein Saisonstart!» Ich sagte zu, war jedoch skeptisch und voller Vorurteile – und sah sie schnell bestätigt.
Vence ist im Kern recht hübsch, aber der Kern ist klein im Verhältnis zur Schale, und am äusseren Rand davon, direkt an der route départementale M2210a, da liegt das Floreal, ein mittelmässiges Mittelklassehotel, es könnte auch «Beaucoup Trafic» heissen, jedoch egal, weil: Das Hotel spielt gar keine Rolle, denn schon am Morgen des zweiten Tages rollten wir aus dem dichten Verkehr hinaus und in eines der Täler hinein, wo einen bald die Landschaft verschluckte, es auf sich windenden Strassen immer weiter ins Hinterland ging, bis man hinten in einem feuchtkaltschattigen Tal auf einer schmalen Brücke einen Fluss überquerte, der sich tief ins Land gefressen hatte auf seinem Weg zum nahen Meer, und man auf der anderen Talseite den Berg hochfuhr, bald den graublauen Fluss jäh weit unter sich liegen sah, bald noch weiter unten, bis man mit Schuss auf der anderen Seite der Erhebung hinunterfuhr, der Blick bis zu schneebedeckten Gipfeln ging, die Landschaft karger wurde und schroffer, hingen eben noch die Glyzinien, schwer wie Trauben, blau an ihren Stängeln und verströmten ihr betörendes Parfüm, wankten die Palmwedel träge im lauen Wind, so ging es bald durch Olivenhaine, vorbei an sich an steile Wände krallende krüpplige Kiefern, dann durch steinige Wüsten, von irgendwo roch es schwer nach Ziegenbock. Bis der Moment kam, wo das Auge nichts sah als Natur, mit einer Ausnahme: eine sich schlängelnde und am Horizont verlierende Strasse, in die bewaldeten Berge gelegt wie ein im Sonnenlicht gleissendes Band.
Abends, als wir zurückkamen wie aus einer anderen Welt, in das geschäftige und lärmige Vence, da fragte mein Freund: «Und?» Ich war etwas sprachlos, sagte nichts. Aber etwas später und nach einer langen, heissen Dusche, im Restaurant dann, da war das Französisch plötzlich da, und zwar alle, alle, alle Wörter, die ich brauchte, Sie wären stolz auf mich gewesen: «Bonjour. Steak. Frites. Du vin rouge. S’il vous plaît. Et fromage. Merci.»
Vielleicht wird das doch noch was mit mir und der französischen Sprache und dem Land und den Leuten. Wer weiss. On verra. Weil: Die Landschaft ist... es fehlen einem tatsächlich die Worte dafür, egal ob auf Deutsch oder Französisch. Vielleicht trifft es am ehesten ein leiser Pfiff.
Veuillez agréer l’expression de mes sentiments respectueux. M. Kuenge.
PS: Song zum Thema. «La Le» von The Lovers vom Album «The Lovers», 2012.