Lieber Coiffeur,
ich war gestern seit Langem mal wieder bei dir. Normalerweise sage ich ja: «Kurz!», damit der Schnitt lange hinhält, man etwas hat fürs Geld, aber ich zögerte, denn ich hatte in der Zeitung einen Artikel über die Früherkennung von Extremisten gelesen. Dies gehört ja zu den Kollateralschäden von Terroranschlägen wie jenem in London kürzlich, dass die Zeitungen sofort die Dinge erklären – und zwecks Fundiertheit sogenannte Experten ihre Meinung über Fundamentalismus kundtun lassen.
Es gibt ja unglaublich viele Experten. Nun, im Falle der Terroristenfrüherkennung war es ein Herr Jansen, der zwar meinte, «ein wachsender Bart allein heisst noch gar nichts», und «nicht jeder, der sich einsam fühlt, ist ein Salafist» (was ich als Bartträger und mich manchmal einsam fühlender Mensch beruhigend finde), aber er sagte auch diesen Satz: «Abschiedshandlungen sind Alarmzeichen: wenn etwa jemand seinen Lieblingspullover verschenkt oder den Haarschnitt radikal ändert.» Und auch scheinbar positive Anzeichen können auf eine radikale Radikalisierung hinweisen, wenn etwa jemand plötzlich scheinbar grundlos mit dem Trinken, Rauchen oder Kiffen aufhöre.
Ja, das hat der Experte gesagt. Deshalb also antwortete ich auf deine Frage, wie ich es denn gern hätte: «Nichts Radikales, bitte, einfach bloss die Spitzen schneiden. Und falls du daran denkst, dass ich dir den Pullover schenke, den ich gerade trage und der mein Lieblingspullover ist: Vergiss es! Gib mir lieber eine Zigi und etwas on the rocks!»
Nun ja, und deshalb schreibe ich dir, weil du sicherlich auch ein Experte bist, und ich brauche dringend Rat. Es ist nämlich so, dass wir in dem Haus in Zürich-Altstetten, in dem ich mein Büro miete, ein kleines Problem haben. Zum Büro gehört auch eine Toilette. Sie liegt auf dem Flur und besteht aus einem Vorräumchen mit einem Warmwasser-Lavabo und zwei verriegelbaren Kabinen mit je einer Toilettenschüssel darin, eine für den Herrn, eine für die Dame, die Türen schön beschildert mit Plaketten aus den 1970ern, der Mann im Anzug, mit Fliege und Einstecktuch, die Dame mit Wespentaille, kariertem Rock und Stöckelschuhen – so wie es früher halt einmal gewesen ist.
Nun kam es in der Vergangenheit des Öftern vor, dass die Toilette verunreinigt war. Der Verdacht lag nahe, dass jemand von aussen der Schuldige war. Ganz in der Nähe ist eine Kunstschule. Wer weiss, auf was für Ideen die auf was für Drogen kommen! Also wurden wir beim Vermieter vorstellig, und bald war ein Schloss montiert. Leider aber hörten die Probleme nicht auf, im Gegenteil, die Verdreckungen intensivierten sich gar, was zur schrecklichen Kabaschlosskontrollierten Logik führte, dass einer der Mieter die Toilette verdreckt, einer von «uns» also, und zwar immer nach demselben Schema: Die Herrentoilette ist wüst verpinkelt, und auf der Damentoilette wartet ungespült ein ziemlich dickes Geschäft.
Ich will nicht zu sehr ins Detail gehen, aber die Bilder, die ich sah, ich werde sie kaum je wieder los. Nachts schrecke ich dieser Bilder wegen aus dem Schlaf! Ich frage mich: Wer tut so etwas? Und warum? Jemand, der zwanghaft Wasser sparen will aus ökologischen Gründen? Jemand, der Mühe hat, sich von seinen Dingen zu trennen? Wir hängten Bittbriefe an die Türe, die bald Drohbriefe wurden, aber keine Wirkung erzielten. Was soll man tun? Eine Überwachungskamera montieren? Die Polizei zuziehen? Sich vor der Türe postieren mit einem Baseballschläger?
Ich weiss, angesichts der Probleme, mit denen sich die Welt konfrontiert sieht, scheinen die hier vorgebrachten Dinge bloss Krümel, kleine Klumpen;–). Aber doch wollen sie gelöst werden. Weil: Daraus besteht doch das Leben und die eigene Realität, aus kleinen und kleinsten Dingen. Und da gehört das Recht auf einen würdigen WC-Besuch sicherlich mit dazu. Dafür sollte es Experten geben: gegen Toilettenterror. Gibt es sie?
Zum Schluss noch ein Rat: Hört ja nicht mit dem Kiffen auf! Bleibt bei den langen Haaren! Verschenkt ja nicht leichtfertig einen Lieblingspullover! Ihr könntet es sonst bereuen in Guantánamo drüben, wenn es kühl wird abends.
Lieber Gruss, Max
PS: Song zum Thema: «Il Pullover» von Gianni Meccia, 1960.