LIEST PUTIN DIE «COSMOPOLITAN»?
Nicht um die Geschehnisse und die Nachrichten gänzlich vergessen zu wollen, aber doch um sie für ein paar Momente zur Seite zu schieben, im Parkhaus des Kopfes in einer anderen Ecke zu garagieren, dass man wieder etwas anderes denken kann, für einen Moment.
Zum Beispiel an all die Pläne, die man hatte und noch immer hat, die Dinge, die man schon immer unternehmen wollte. So googelte ich heute Hotels und Restaurants in der Nähe eines Dorfes namens Cuorgnè, 35 km nördlich von Turin gelegen, um von dort mit dem Velo auf den Colle del Nivolet zu fahren (2641 m ü. M.). Eine traumhaft in die mit kleinen Seen gespickte Bergwelt gelegte Kurvenstrasse führt hinauf. (Die Schlussszene von «The Italian Job» wurde dort gefilmt, 1969.) In Gedanken war ich schon oft dort oben, in echt jedoch noch nie. Und über Cuorgnè weiss ich auch bloss, dass die Kirche des Ortes dem Heiligen Dalmatius gewidmet ist, einem lokal tätig gewesenen Märtyrer (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen römischen Caesar, der übrigens einen Bruder hatte, der Hannibalianus hiess. Ein Name, der Eltern mit Originalitätssucht für ihr Kind wärmstens ans Herz gelegt sei: «Hannibalianus! Essen ist fertig!») Ob ich es dieses Jahr auf den Nivolet-Pass schaffe, im Sommer, im Herbst, das weiss ich nicht. Aber er steht nun auf dieser Liste, auf der noch andere unerledigte Dinge stehen, beispielsweise Juf.
Ablenkungsmanöver führen mich immer wieder aus dem Haus und hinein in die Stadt. Dann spaziere ich etwa zum Bahnhofskiosk. Zwar fühlen sich die Worte auf den gestapelten Zeitschriften derzeit auch falsch an. «Ein Hoch auf die Freiheit!» titelt etwa die «Brigitte Woman», Untertitel: «Warum Solo-Frauen oft die glücklicheren Frauen sind», und die «Cosmopolitan» schreibt: «Top Laune, mega Teint, gechilltes Ich – Das Mood Booster Special». Obwohl eine auf dem Cover angekündigte Geschichte wie für Wladimir Putin geschrieben scheint: «GEWINNEN DURCH AUFGEBEN – wie Sie sich von falschen Zielen und fremden Wünschen freimachen.» Doch ich denke nicht, dass Putin die «Cosmopolitan» liest – und als Kosmopolit wird er in nächster Zeit wohl auch nicht unterwegs sein.
Die Gründe für meine Kioskbesuche sind weniger die zentral aufgetürmten Frauenmagazine, sondern die spärlicher zu findenden Hi-Fi-Zeitschriften. Ich häng das nicht an die grosse Glocke, denn es ist mir etwas peinlich, niemals würde ich es öffentlich machen: Wenn ich meine Gedanken entspannen will, dann schaue ich mir Stereoanlagen in Zeitschriften an. Verstärker. Boxen. Plattenspieler, die so teuer wie Kleinwagen sind. Denn all dies sind Dinge, die ich nicht brauche. Ich habe dafür weder den Platz noch das Geld – gerade deshalb ist die Beschäftigung damit so erholsam. Zudem sind Stereoanlagen ein Thema, das mich unterschwellig seit meiner Jugend umtreibt – wie Boxenkabel verlaufen diese Sehnsüchte zurück in die Achtzigerjahre und verbinden so die zukunftsgerichtete Gegenwart mit der rundumverklärten und wie im Schwarzlicht leuchtenden Vergangenheit.
Kabel von Stereoanlagen in Zeitschriften und serpentinenreiche Strassen hoch auf Pässe im Grenzgebiet von Piemont und Aostatal: Dies sind ideale Gedankenschlaufen für… «kleine Fluchten» wollte ich eben schreiben, weil dies so schön klingt, so harmlos, und an den gleichnamigen Film von Yves Yersin erinnert (1979). Aber angesichts der aktuellen Geschehnisse scheint es komplett falsch zu sein, dieses Wort so zu gebrauchen. So endet auch dieser Eskapismusversuch. Und wir sind wieder beim Krieg.