• April 2019

LIEBES WIKIPEDIA

Auf dem Nachttisch neben meinem Bett liegt ein Kugelschreiber auf einem Notizblock, damit ich darauf nächtliche Geistesblitze subito notieren kann. Meistens ist dieser Notizblock morgens jedoch leer, oder es stehen Dinge drauf wie «Toilettenpapier kaufen!» oder «Steuererklärung!». Doch an einem Morgen las ich dort einen ganzen Satz von nicht kurzer Länge: «Erst wenn der letzte Uploadfilter installiert ist, der letzte Mensch vergoogelt ist, der letzte Datensatz gesammelt ist, dann werdet ihr merken, dass man zu Algorithmen nicht tanzen kann.»

Ich dachte erst, dieser Spruch müsse aus der Feder eines Häuptlings der Cree oder eines anderen Indianerstamms stammen. Aber nein, es war unschwer erkennbar meine schwer leserliche Handschrift, in welcher diese Worte zu Papier gebracht worden waren. Mächtig stolz auf mein nächtliches Ich dachte ich: «Den Spruch lass ich mir gleich tätowieren!»

Der Zufall wollte es, dass just an jenem Tag ich einen Text zum 30. Geburtstag des World Wide Web (auch bekannt als «das Internet») schreiben sollte. Das Internet! Ha! Früher, als das Internet noch ein Rotzlöffel war, da musste man noch Kabel in Telefonbuchsen einstecken, um reinzukommen. Man hatte schuhkartongrosse Modems, und wenn man sich einwählte, dann klang es furchtbar! Kennst du es noch, das Geräusch? Nein, natürlich nicht. Du bist dafür viel zu jung. Das Geräusch klang etwa so: «Schhhhhh hhhhhhhhhkkkkkkkkkkrrrrrrrrkakingkakingkaingts hchchchchchchchchcchchchchchchch.» Es tönte, als zöge man eine widerspenstige Katze mit ausgefahrenen Krallen über eine Schulhaus-Wandtafel. Ein nervtötendes Geräusch, welches ein jedes Mal erklang, wenn man die Pforte zu diesem damals neuartigen und verheissungsvollen Ort namens Internet durchschreiten wollte.

Gut, an jenem Tage also wollte ich bei dir nachlesen, was es mit dem Internet auf sich hat, woher es kam, wohin es geht. Doch du streiktest an jenem Tag, aus Protest gegen Teile des neuen EU-Urheberrechts, Artikel 13 und so weiter. Ein Tag ohne Wikipedia ist für Journalisten fast so schlimm, wie wenn der Strom komplett ausfällt oder die Copy & Paste-Tastenfunktion klemmt, denn: Wo hat man all sein Wissen her? Von dir! Glücklicherweise bin ich als alter Zivilschützer für solch katastrophale Ernstfälle gerüstet. Ich griff zu meinem Wikipedia-Back-up: dem «Brockhaus»-Lexikon, welches in 24 breiten Bänden in meinem Bücherregal das oberste Tablar gänzlich einnimmt. Ich hatte den «Brockhaus» einst einem Mann in Matzingen (450 m. ü. M.) für 99 Franken abgekauft. Das ganze Wissen der Welt, 55 Kilo, 20 000 Buchseiten für 99 Franken! Früher einmal war der «Brockhaus» so teuer wie ein Gebrauchtwagen, heute will ihn nicht einmal mehr das Brockenhaus.

Mein «Brockhaus» stammt aus dem Jahr 1989, also just jenem Jahr, in dem das Internet geboren worden war. Aber das Internet hatte es nicht in meinen «Brockhaus» geschafft. Auf Seite 345 des zehnten Bandes hätte das WWW verhandelt werden müssen, nach dem WWF und vor Wörlitz (eine Stadt in Sachsen-Anhalt). Aber da steht nichts über ein World Wide Web. Der «Brockhaus» und das Internet, sie haben sich damals gerade verpasst. Das eine hatte gerade begonnen, das andere würde bald verschwinden. Also schrieb ich an jenem Tag keinen Artikel über den 30. Geburtstag des Internets. Stattdessen blätterte ich weiter in der Enzyklopädie, studierte die Einträge zu «Wörthersee» und «Wortschatz», lange besah ich die schematische Darstellung eines Wostok-Raumflugkörpers, länger noch das Bild des zu den Plumpbeutlern gehörenden Wombats, genauer des Nacktnasenwombats, der einem einfach sympathisch sein muss, kurzbeinig, stummelschwänzig und nachtaktiv, wie er ist. Im «Brockhaus» zu surfen, war wie ein erholsamer Spaziergang: ein ziellos-schönes Schlendern durch die erfasste, niedergeschriebene Welt. Aber ein jeder Spaziergang endet einmal. Und am nächsten Tag endete auch dein Warnstreik.

Mit solidarischen Grüssen Max Küng

PS Song zum Thema: «Lydia the Tattooed Lady», gesungen von Groucho Marx im Film «The Marx Brothers at the Circus», 1939.

PPS Ein Interview zum Thema führte der Deutschlandfunk mit dem Internetpionier Jaron Lanier. Nachzuhören auf www.deutschlandfunkkultur.de.