• Mai 2020

LIEBER WALD

Dieser Tage bin ich oft auf deinen Pfaden und Wegen unterwegs, denn mit dir ist es derzeit so, wie es schon immer gewesen ist: schön. Du weisst nichts von der Krise, und auch ich kann sie ein wenig vergessen, wenn das Totholz unter meinen Schuhen knackst, mir feine Äste ins Gesicht peitschen, sich mein Blick zwischen den Bäumen im grünen Nichts verliert. Und das Beste: Du gehörst uns allen – könnte man meinen.

Man hört und liest ja immer wieder, dass die Corona-Krise auch eine Chance sei, dass «wir Menschen» durch diese Plage lernten, was Solidarität bedeutet, Hilfs­be­reit­schaft, Nächs­tenliebe; und dass wir diese nun wieder­ent­deckten Tugenden auch nach der Krise weiter leben würden, sie fortbe­stünden. Ich habe da allerdings so meine Zweifel – und diese wachsen mit jedem Waldspa­ziergang. Im Tann tobt nämlich ein Klassenkampf. Denn war der Wald früher den Bäumen, Tieren, Eremiten und Räubern vorbe­halten, vereinzelt noch Heimat von Märchen­figuren wie Hexen oder Kobolden, so strömt heutzutage natürlich Krethi und Plethi herein, auch der durch die Schliessung der Shopping­meilen zu einer Naher­ho­lungs­al­ter­native gezwungene urbane Pöbel. Auf den Waldwegen stossen sie dann auf die Quasi-Indigenen, jene Menschen, die schon immer gerne ihre Lungen mit Frischluft frisch ab Quelle versorgten. Diese um ihre Oase bangenden Einge­borenen erkennt man daran, dass sie die vermeintlich Fremden nicht grüssen, sondern durch sie hindurch­blicken, als wären die Neo-Gehölz­gänger Bäume, auch wenn sie freundlich die Kopfbe­deckung lupfen. Die, die zuerst waren, spazieren oder wandern zielstrebig daher: Als wären sie gar keine Lebewesen, sondern Wande­roiden. Am liebsten würden sie ihre Teleskop-Wander­stöcke heben, die sich dann als Laser­gewehre heraus­stellten... und die Eindringlinge weglasern.

Meine Zweifel an einer grossen gesell­schaft­lichen Verän­derung fussen noch auf anderen Erfah­rungen, denn ich kenne zwar nicht die Menschheit als Gesamtes, einen von ihr aber ziemlich genau: mich selbst. Vor Jahren prakti­zierte ich jeweils zur Frühlingszeit eine Form der Selbst­kas­teiung namens Fasten; genauer war es eine Minika­lo­ri­endiät namens Sambu-Holun­der­saftkur von Dr. Dünner. Nach diesen Kuren und zehn Tagen Food-Distancing war man nicht nur so, wie der Kurdoktor heisst, sondern auch ein bisschen heiliger, also bewusster, sagen wir: etwa achtmal achtsamer, als man zuvor gewesen war. Man sagte dann, ein mildes Lächeln im Gesicht, während man eine erste Bouillon ohne Salz löffelte: «Nie mehr Zucker! Nie mehr Alkohol! Nie mehr Doppel­cheese­burger mit Extraspeck und -käse!» Denn: Man war ein neuer, besserer Mensch geworden.

Aber wie lange dauerte es, bis man wieder in einen Hamburger biss und der Fettsaft einem auf das T-Shirt troff, man sich das Weinglas vollschenkte, bis man das schöne physi­ka­lische Phänomen der Oberflä­chen­spannung beobachten durfte? Ein paar Tage – dann war man wieder der, der man zuvor gewesen war.

Ich würde gerne glaube, dass wir verwandelt aus dieser Krise kommen, wie ein Auto strahlend und glänzend nach einer Saharastaub-Woche aus einer Wasch­strasse. Der Mensch hat eine Sehnsucht nach Verän­derung, aber hat er auch den Willen dazu, die Kraft? Oder ist diese Sehnsucht nichts weiter als eine Verblendung, eine roman­tische Vorstellung, eine Kitschroman-Veredelung seiner selbst? Denn ist der Mensch nicht vor allem eines: ein Gewohn­heitstier, das sich selbst nicht entrinnen kann?

Obendrein stelle ich eine Abflachung der Erotik der Krise fest: Anfangs zogen wir wie eine mit Heugabeln und Teppich­klopfern bewehrte Laienarmee in den unsichtbaren Kampf gegen dieses Virus. Nun aber diagnos­tiziere ich eine gewisse Erschöpfung. Wir sind versehrt von Homeschooling und Homeoffice, von überhaupt allem, was mit Home zu tun hat, zudem wachsen die Entzugs­er­schei­nungen des fehlenden TV-Live-Sports. Wir sehnen uns nicht nach einem Leben als bessere Menschen – die alte Version von uns selbst genügte uns mehr als genug.

Hoffentlich werde ich enttäuscht! Aber ich befürchte, es wird gerade in diesem Fall nicht der Fall sein. Leider.

Bis morgen früh um sechs! Max

PS Zwei Songs zum Thema: «Promenade Senti­mentale» von Vladimir Cosma vom Soundtrack zum Film «Diva», 1981; zudem: «A Forest» von The Cure, 1980.