• Juli 2024

LIEBER UNBEKANNTER MIT LASTENFAHRRAD,

der Morgen war früh und frisch, der ihm folgende Tag ein weisses Blatt. Noch müde, aber zufrieden, vielleicht sogar so etwas wie glücklich ging ich aus dem Haus, welches mir die Nacht über eine Höhle gewesen war, mich vor Gefahren und den Elementen beschützt hatte, mich gut hatte träumen lassen. Ich wollte zur Bäckerei, um für meine Familie das Frühstück zu jagen, noch ofenwarme Schokogipfel, Baguette, Mais-Croissants. Da kam ein grosser, schwarzer Schatten von links, schnell und wuchtig wie ein Güterzug: «Wusch!» Das warst du. Um Haaresbreite hättest du mich über den Haufen gefahren. Und um Haaresbreite meint in diesem Fall wirklich haarscharf, nicht wie bei der Fussball-EM, wenn der Kommentator ins Mikro brüllt, der Ball sei «um Haaresbreite» am Tor vorbeigeschossen, dabei waren es in Tat und Wahrheit 27,5 Zentimeter; denn 27,5 Zentimeter dicke Haare hat kein Mensch und auch kein Tier, nicht einmal die dem subarktischen Klima angepassten Wollhaarmammuts (Mammuthus primigenius) hatten sie. Ein Menschenhaar misst übrigens in der Regel 0,06 bis 0,08 Millimeter. Und exakt so knapp war es an jenem Morgen gewesen: «Wusch!»

Die Erstreaktion bei einer Gefahr aus dem Nichts ist Erschrecken, das war schon so, als man beim Verlassen der Höhle nicht von einem Elektro-Lastenfahrrad, sondern von einem Säbelzahntiger angefallen wurde: Einschuss von Adrenalin, Hochschnellen des Pulses, Muskelanspannung. Innert Millisekunden ist man bereit für Kampf oder Flucht, einfach für ALLES! Dem Schrecken folgte bald die Erkenntnis, dass die Gefahr vorüber war. In dieser Phase der Entspannung kochte die Wut in mir hoch, also rief ich dir ein paar Dinge nach, verbaler Wundspray quasi, Psychohygiene, was mir gerade einfiel, Einsilbiges, aber grob geschnitten und laut gerufen. Du fuhrst auf deinem elektrisch unterstützten Lastenfahrrad weiter, entschuldigungslos, und ich kam mir ein bisschen wie ein Trottel vor, weil ich wie ein renitenter Rentner jemandem frühmorgens üble Dinge nachrief. Doch ich konnte nicht anders. Es war nicht das erste Mal, dass ich mich über ein Lastenfahrrad aufregte – und mich gleichzeitig aufregte, dass ich mich über so etwas aufregte, denn das Problemebuffet, welches unsere Welt bereithält, es ist ja doch sehr reich gedeckt. Da sind Lastenfahrräder nun wirklich Peanuts.

Eigentlich sind sie sogar gute Ideen für innerstädtische Kleinwarentransporte oder zum Einsammeln von vandalisierten Elektrotrottinetts, aber meistens stehen diese gut gemeinten Ideen leider einfach irgendwo herum und dem Menschen im Weg. Ich kenne ein solches Lastenfahrrad mit für den Kleinkindertransport ausgerüstetem Aufbau, es schläft in einem Hauseingang, noch niemals sah ich es in Bewegung oder an einem anderen Ort. Es steht einfach dort. Irgendwann hatte es einen platten Reifen – und den hat es noch immer. Dieses Lastenfahrrad, einst angeschafft für Tausende von Franken und mit noch mehr guten Absichten, ist ein vor sich hin rottendes Denkmal für eine bessere Welt, eine Tristesse aus Stahl und Gummi und einer fetten Lithium-Ionen-Batterie, Wohlstandsmüll in spe.

Als ich die Bäckerei verliess, steckte ich vorsichtig den Kopf aus der Tür, schaute links, schaute rechts, dann nochmals links. Die Luft war rein – kein auf dem Trottoir heranbrausendes Elektro-Lastenfahrrad in Sicht. Bloss noch die säuerliche Erinnerung an die Beinahekollision in den Knochen, um Haaresbreite: «Wusch!»