• Juni 2019

LIEBER PAPIERKORB

 

Ich kann mir vorstellen, dass du dann und wann an die Vergangenheit denkst und dabei schmunzeln musst, vielleicht verdrehst du gar die Augen, denn was prophezeite man einst? Das papierlose Büro? Was für eine grandiose Vision! Dann gäbe es dich heute nicht mehr, du wärst abgeschafft worden – der Papierkorb wäre in den Müllkübel gewandert. Aber es kam dann, wie es immer kommt: anders. Heute hast du so viel zu tun wie nie zuvor. Dies dachte ich, als ich dich heute morgen unter meinem Schreibtisch hervorzog, überquellend, wie du warst, um deinen Inhalt sorgfältig zu trennen und den entsprechenden Verwertungsketten der Rezyklierung zuzuführen.

Was du nicht alles schlucken musst! Meine Güte! Papierbackförmchen, in denen einst Käseküchlein von der Migrolino-Tankstelle auskühlten; aufgeriebene Rubbellose, lauthals einen Gewinn versprechend, die sich jedoch – natürlich – allesamt als Nieten herausstellten; Versuche von Geschichten, einst voller Hoffnung aus dem Laserprinter geschloffen wie bei einer glatten Geburt, doch, kaum gelesen, zu Kugeln zerknüllt im Bogenwurf deinem runden Schlund überlassen. Was fand ich noch? Einen wie von einem Auerochsen zerkauten Kugelschreiber; eine Quittung für Chicken Nuggets und ein Wildschwein-Cordon-bleu im Restaurant Erpel; ein paar Kronkorken von Bierflaschen.

Es gab eine Zeit, vor dreissig Jahren vielleicht, als der Popjournalismus kurz blühte, da klaute man Menschen die Müllsäcke vor der Türe weg, fotografierte und analysierte den Inhalt, erstellte ein Psychogramm via Abfall, machte eine peppige Story draus. Gut, meist ging es da um Prominente, Hollywoodschauspieler etwa, aber wenn jemand dich durchwühlen würde, lieber Papierkorb, und Rückschlüsse auf mein Seelenleben ziehen würde... Ein Blick in den Abfall ist das Gegenteil des Betrachtens von Instagram.

Noch etwas fand ich in deinem Bauch. Eine Postit-Notiz. Darauf stand ein Satz: «Lieber Gott, ach... wo soll ich anfangen?» Es war der Entwurf des Beginns einer Kolumne, ein Brief an den lieben Gott. Ein Brief, den einer meiner Chefs einst gewünscht hatte, wohl zur Weihnachtszeit, eventuell auch vor Ostern. Aber daraus ist niemals etwas geworden, denn über diesen Satz auf dem gelben Klebezettel kam ich nie hinaus.

Als ich diese gefundene Notiz aus deinem Inneren barg, da fiel mir etwas ein, was mich nervös werden liess: Bald würde ich in einer Kirche ein paar Texte lesen, im Rahmen eines katholischen Gottesdienstes. Als ich dazu eingeladen wurde, da wies ich den Pfarrer am Telefon darauf hin, es liege sicherlich eine Verwechslung vor: Mein Vorname laute nicht Hans. Auch sei ich mit jenem weder verwandt noch verschwägert. Der Pfarrer aber schien zu wissen, was er wollte, also sagte ich zu.

Nun ist es so, dass ich eher selten in Kirchen anzutreffen bin, obwohl sie gerade an heissen Sommertagen – etwa bei Italienreisen – so erfrischend sein können wie ein Gelato der Sorte «Puffo». Das letzte Mal richtig in einer richtigen Kirche war ich anlässlich einer Abdankungsfeier. Ich trug den schwarzen Anzug – und als ich während der Abdankung staunte, wie das Sonnenlicht die bunten Fenster glühen liess, die Heiligen darauf strahlten, und darüber sinnierte, wie mächtig das Bildermonopol der Kirche gewesen sein musste, als es noch keine Coffee-Table-Books gab und kein Fernsehen und kein Internet, da fühlte ich etwas in der Innentasche des Vestons. Ich griff hinein, wohl in der Hoffnung, ein vergessenes Bündel Banknoten zu finden, zog aber bloss ein weisses Papier hervor, viermal gefaltet. Leise raschelnd entfaltete ich den Bogen. Es war das Informationsblatt einer anderen Abdankungsfeier, die ein gutes Jahr zuvor stattgefunden hatte. Dort hatte ich den Anzug das letzte Mal getragen. Dort war ich zuletzt in einer Kirche gewesen. Schumann wurde damals gespielt. Auch Bach wurde gegeben. «Befiehl du deine Wege.»

Gut, lieber Papierkorb, ich habe dich geleert und dein Inneres getrennt, damit anderes Platz hat – neue alte Dinge, die wegmüssen, wie der schwere Schnee auf einem schwarz geräumten Alpenpass wegmuss, damit neuer fallen kann, irgendwann, später, dereinst. Das Post-it heb ich aber auf – vorerst.

Mit Dank für deine treuen Dienste Max

PS Song zum Thema: «Church Key» von den Revels, 1960.