• Mai 2020

LIEBER LUDWIG JOHANN KARL GREGOR EUSEBIUS FREIHERR ROTH VON SCHRECKENSTEIN

Ich würde Ihnen gerne zum Geburtstag gratulieren, doch leider haben Sie heute gar nicht Geburtstag, im Gegenteil: Sie starben an diesem Tag, und zwar vor exakt 162 Jahren. Der 30. Mai hatte es schon immer in sich. 1431 wurde Jeanne d’Arc in Rouen auf den Scheiterhaufen geschleift; in der Tieflanddschungelstadt Palenque in den Anden bestieg im Jahr 702 nach dem Tod des Maya-Herrschers K’inich Kan Bahlam II. dessen Bruder K’inich K’an Joy Chitam II. den Thron; die Hussitenkriege in Böhmen endeten 1434 mit der Schlacht bei Lipan, als die Taboriten unter Führung von Prokop dem Grossen in einem furchtbaren Gemetzel den Utraquisten unterlagen; der 30. Mai war auch der Tag, an dem der deutsch-französische TV-Sender Arte auf Sendung ging (1992), der erste Giro d’Italia endete (1909) und Bob Marley im Zürcher Hallenstadion ein Konzert gab (1980), zu dessen Zugaben die Jugendunruhen gehörten (die Besucher schlossen sich sponti der Opernhauskrawallerie an).

Aber weshalb ich Ihnen schreibe? Nun, ich habe mir Ihren Namen notiert, denn er ist bemerkenswert: Ludwig Johann Karl Gregor Eusebius Freiherr Roth von Schreckenstein! So einem Namen begegnet man nicht alle Tage. Sie waren ein preussischer Kavallerist, Verfasser der Schriften «Gedanken über die Organisation und den Gebrauch der Cavallerie im Felde» (1849) sowie «Die Cavallerie in der Schlacht an der Moskwa» (1855), ansonsten gibt es nichts Weltbewegendes über Sie zu berichten, nur ein paar Schlachten und Kriege, aber: Was ist schon weltbewegend? Ein Bild sah ich von Ihnen, Sie in einer überbordend mit Orden bestückten Uniform steckend, mit prächtigen Epauletten, gross wie Hähnchenhälften. Imposant! Also habe ich, als ich über Ihren langen Namen gestolpert bin wie über eine Wurzel bei einem Waldspaziergang, diesen Namen in mein Büchlein notiert, damit ich ihn nicht vergesse. Das Büchlein trägt den handschriftlichen Titel «Seltsame Namen von Menschen und Orten und anderes Zeugs zur späteren Verwendung». Es ist ein Vergissmeinnichtbüchlein, in dem ich festhalte, was mir interessant scheint, wofür ich aber vorerst keine Verwendung habe. «Am kursivsten» steht dort auch drin, der Superlativ des Adjektivs, welches eine schräg geneigte Schriftart beschreibt – ich bin gespannt, ob dieser Superlativ überhaupt je ausserhalb des Dudens zur Anwendung kam oder kommen wird, denn was in aller Welt kann kursiver sein als kursiv?

«Unterfucking» und «Oberfucking» habe ich im Büchlein notiert, was wie «Fucking» geografische Bezeichnungen sind für Ortsteile der österreichischen Katastralgemeinde Hofstatt im Bezirk Braunau am Inn (andere Gemeinden dort heissen Lochen am See, Maria Schmolln oder Überackern). Alle Fuckings werden gern von humorigen englischsprachigen Touristen besucht – derentwegen man im Laufe der Zeit die Ortstafeln auf besondere Weise zu sichern sich gezwungen sah (anschweissen, annieten, einbetonieren), denn die Touristen liessen es nicht dabei bewenden, sich mit den Schildern fotografieren zu lassen, sondern entwendeten diese gerne als Souvenir.

Der Name der französischen Schauspielerin und Regisseurin Agnès Jaoui steht in dem Büchlein, nicht weil sie eine tolle Künstlerin ist (was sie ist!), sondern weil ihr Nachname eine Vereinigung einer deutschsprachigen und französischen Bejahung darstellt.

Und: «Epauletten» – aber wer gebraucht heute noch den Begriff «Epauletten»? Die sind – wie auch die bei Dragoneruniformen einst so beliebten und als «Brandebourgs» bekannten Schlaufenknöpfe – längst aus der Mode. Ich werde «Epauletten» wohl niemals in einem Text verwenden können ebenso wenig wie «verkasematuckeln» oder «Schlampermäppchen». Aber seis drum: Notiert ist notiert.

Das ist auch schon alles, lieber Ludwig Johann Karl Gregor Eusebius Freiherr Roth von Schreckenstein, und grüssen Sie mir Ihre Gattin Luisa, geborene Gräfin von Hatzfeld-Trachenberg, in deren Familiengeschichte ja auch ein paar interessante Namen auftauchen (von Schlitz; zu Sickingen).

Irgendwann werde ich vielleicht für ein paar der Wörter und Namen Verwendung finden. Bis dahin werde ich weiter das tun, was ich bis anhin getan habe: fleissig sammeln.

Mit vorzüglichen Grüssen Max Küng

PS Song zum Thema: «Stop the Cavalry» von Jona Lewie, 1980.