• Juli 2020

LIEBER KLUMPEN

Die Koffer sind gepackt, der Volvo ist vollgetankt, den Deckel der Dachbox hab ich mit Müh und Not zugekriegt, die Batterien der iPads der Kinder sind geladen, alles ist gerüstet und parat und bereit, ich bin gestiefelt und gespornt, aber bevor es losgeht in die Ferien, möchte ich dir noch ein paar Zeilen schreiben, Vorabferiengrüsse quasi, denn ich habe dieses Jahr nicht vor, Postkarten zu verschicken: Du wirst vier Wochen nichts von mir hören.

Diese Sommerferien werden sich nicht gross von meinen anderen Ferien unterscheiden. Schon seit Jahren fahren wir ja bloss in die nahen Berge, um dort möglichst nichts zu tun. Doch angesichts der globalen Umstände und deren Unwägbarkeit haben sich die in manchen Augen langweiligen Bünzli-Loser-Gähn-Ferien über Nacht zum neuen Standard gewandelt. Ich hoffe sehr, dass es in den Bergen trotzdem auch diese Saison genug Platz für alle hat – und nicht die mit übertriebenen Sommerferien-Ambitionen alles kaputtmachen. Denn wenn ich etwas nicht will, dann ist es Action und Betriebsamkeit, Gewimmel und Remmidemmi, Trubel-Trouble und Ischgl-Wirbel. Nein, ich erhoffe – ja, erträume – mir von diesen Sommerferien vor allem etwas: Langeweile. Ich weiss, dass dieser Zustand nur schwer zu erreichen ist. Die Langeweile zu finden ist eine geheimnisvolle Reise – und deshalb ist sie umso begehrenswerter. Die Langeweile ist der wahre Luxus.

Ich fuhr mal mit dem Frachtschiff von Europa nach Amerika rüber, genauer von La Spezia nach New York. Beinahe vier Wochen dauerte diese Passage. Ich war der einzige Passagier. Die ersten Tage über war die Sache auf so einem Riesenfrachtkahn neu und spannend, dann aber hatte man sich bald an alles gewöhnt; die Sache wurde – und täglich grüsst das Meerschweinchen – echt langweilig. Einer der Höhepunkte dieser Reise war, als ich mir in der schütteren Schiffsvideothek eine abgenudelte VHS-Kassette von «The Perfect Storm» (Regie: Wolfgang Petersen; mit George Clooney und Mark Wahlberg) auslieh und in der klosterzellengleichen Kabine anschaute, dreimal hintereinander, manche Sequenzen des perfekten Sturms in Slow Motion, andere Bild für Bild. Ausser täglich drei warme Mahlzeiten zu vertilgen, gab es auf dem Containerschiff für mich nichts zu tun. Eine Weile spielte ich Yahtzee gegen mich selbst (eine seltsame, aber schöne Erfahrung: Gleichzeitig zu gewinnen und zu verlieren … kam mir vor wie ein vorweggenommenes Resümee des Lebens). Oder ich blickte hinaus auf das Meer – mit oder ohne Fernglas vor den Augen –, wo es nichts zu sehen gab als Meer, Meer, Meer und noch mehr Meer, während wir der schweren Maschine im Rumpf wegen brummend und zitternd mit der Geschwindigkeit eines leidlich frisierten Puch Maxi über den Ozean tuckerten, unter uns tausend Faden nasse Dunkelheit. Auf dieser Reise erreichte ich nach gut drei Wochen so etwas wie die perfekte Langeweile! Es war eine Art Schwebezustand, nirwanaartig eventuell sogar, das Bewusstsein runtergedimmt, über Tage niedergegart im Sud des Nichtstuns. Niemand wollte etwas von mir; es gab keinen Handyempfang; kein Internet; noch nicht einmal Mücken ärgerten einen – und das Schiff mit seinen dreitausend Containern und dem einzigen Passagier war nichts als ein kleiner Punkt auf einem blauen Riesenlaken.

Von den Bergen kann ich dies in einer solchen Art in diesem Sommer wohl nicht erwarten. Ein bisschen aber erhoffe ich es mir schon. Für ein paar Stunden vielleicht; oder ein paar Minuten. Eine Tranche Ennui, wenn auch nur dünn wie eine Scheibe Speck, das wärs! Wir werden sehen.

Jedenfalls: Ich wünsche dir einen schönen Sommer. Möge die Langeweile auch dich ereilen! Ich melde mich in ein paar Wochen wieder. Jetzt aber los! Die Reise ruft. Brechen wir auf.

Liebe Grüsse Max

PS Song zum Thema: «Everybody Loves the Sunshine» von Roy Ayers vom gleichnamigen Album, 1976. Oder natürlich die Prä-Flugscham-Hymne: «Monotonie» von Ideal vom Album «Der Ernst des Lebens», 1981. Oder natürlich «Ennui» von Lou Reed (eine der langweiligsten und zugleich spannendsten Sängerstimmen überhaupt) vom Album «Sally Can’t Dance», 1974.