• Juni 2020

LIEBER KLUMPEN

Hast du die vorletzte Ausgabe des «Magazins» gelesen, die mit den Lockdown-Aufzeichnungen? Ein Heft, das aufzubewahren sich unbedingt empfiehlt, denn eines Tages werden wir es wieder hervorziehen, darin lesen und uns daran erinnern, wie es gewesen ist. Denn wir Menschen können ja vor allem eines gut: vergessen. Zum Glück! Denn ohne die Gnade des Vergessens stellte ich mir ein Leben beschwerlich vor. Die totale Erinnerung: ein furchtbarer Gedanke. Man würde sich an alles und alle erinnern, das Letzte und den Hinterletzten, immerzu! Da würde einem doch – früher oder später – das Hirn durchschmürzeln.

Kennst du Samuel Pepys? Der wollte sich erinnern. Deshalb führte er Tagebuch. Aber im Geheimen. Pepys lebte im London des 17. Jahrhunderts, war dort ein aufstrebender Staatsdiener im englischen Marineamt. Das Tagebuch wurde erst Jahre nach seinem Tod entdeckt. Aber: Es ist ein Schatz! Ich bin während des Lockdowns wieder drübergestolpert, begann zu lesen... und konnte es einfach nicht mehr aus der Hand legen, denn dieses Buch ist besser als jede Netflix-Serie. Vor allem seine Aufzeichnungen aus dem Jahr 1665 – «fascinating!», wie Mr. Spock sagen würde.

Am 10. Juni jenes Jahres erzählte man Pepys bei einem Nachtessen, in London sei die Pest ausgebrochen. 43 Tote in der ersten Woche. Schnell mehrten sich die Fälle; bald gingen sie in die Tausende. «Alle Strassen sind verödet, sogar in London, ein trauriger Anblick.» Zu seiner über die Jahre gewachsenen Furcht, nachts könnten Einbrecher in sein Haus schleichen und sein Geld stehlen (diese Furcht stieg parallel zu seinem Vermögen), kam die Angst vor dem Pesttod. Trotzdem aber fand er noch Musse, sich um seine Hausangestellten zu kümmern: «Liess mich von meiner kleinen Magd kämmen, der ich gestand, dass ich sie sehr schätze und meine mains in su dos choses de son breast tun möchte. Ich musste es lassen, falls ich nicht alguno major inconvenience erleben will.» (Aus Furcht, seiner Frau könnte das Tagebuch in die Hände fallen, griff er bei pikanten Dingen zu einem verschleiernden Sprachmix.)

Das Faszinierende an diesem Tagebuch: Es behandelt das Grosse (etwa den drohenden Seekrieg gegen Holland; die Pest) gleich wie das Kleine, Private, die Liebe, Lust oder wie etwa die Schwanenpastete schmeckte. Nicht zu kurz kommen auch die Aktivitäten von Pepys’ Darmtrakt: Verstimmungen, Stuhlgang, Flatulenz.

Am 12. August schrieb Pepys: «Die Menschen sterben jetzt in solchen Mengen, dass Beerdigungen von Pesttoten auch tagsüber stattfinden, die Nächte reichen nicht mehr aus. Der Lord Mayor hat angeordnet, dass alle Gesunden um 9 Uhr abends zu Hause sein müssen, damit die Kranken an die frische Luft können.» Drei Tage später: «Träumte letzte Nacht den schönsten Traum meines Lebens. Ich träumte, ich hätte Lady Castlemaine in meinen Armen und dürfte alles mit ihr tun, was ich wollte. Was für ein Glück würde es sein, wenn wir in unseren Gräbern (wie Shakespeare sagt) nur solche Träume hätten – dann brauchten wir den Tod nicht so zu fürchten wie in dieser Pest-Zeit.» Die Zahl der Toten stieg stetig. 7496 wurden allein in der letzten Augustwoche gezählt. «Man fürchtet jedoch, dass die wahre Zahl bei 10 000 liegt – das liegt z. T. an den Armen, die man nicht genau erfassen kann, und z. T. an den Quäkern und anderen, die nicht zulassen, dass für sie die Totenglocken geläutet werden.» Das grosse Sterben ging weiter. Aber auch das kleine Leben: «Zog meinen neuen farbigen Seidenanzug an und meine neue Perücke. Was wohl für eine Mode in Perücken kommt, wenn die Pest vorüber ist? Jetzt wagt niemand mehr, Haar zu kaufen, aus Angst, es könnte von einer Pestleiche stammen.»

So, ich mach Schluss. Muss weiterlesen. Weil: Pepys macht süchtig! Ist wirklich besser als Netflix oder Sky (mit Ausnahme eventuell der Serie «Westworld» oder «Deadwood»). Kauf dir das Buch! Oder besser noch: Wenn ich damit fertig bin, schick ich es dir – was ich hoffentlich nicht vergessen werde!

Max

PS Song zum Thema: «Bad Place For A Good Time» von Kate Tempest, 2015.

PPS Pepys’ Tagebuch gibt es auf Deutsch in gekürzter Form bei Reclam (510 Seiten, 17.90 Fr.) – oder als Gesamtausgabe (sechs Bände im Schuber) bei Zweitausendeins (satte 4556 Seiten, derzeit zum Aktionspreis von 66.80 Fr.).