LIEBER KLUMPEN
Das Buch ist fertig, der neue Roman, er wird im Herbst erscheinen, was gut zu ihm passt, denn in dieser – meiner – Lieblingsjahreszeit handelt seine Geschichte. Drei Jahre habe ich daran geschrieben. Eine lange Zeit. Vor allem auch eine einsame Zeit. Und anstrengend. Du denkst nun, ich könnte feiern? Vergiss es! Denn das Alleranstrengendste und -mühsamste steht mir noch bevor: Das Buch braucht einen Titel. Und du weisst ja: Ein guter Titel ist die halbe Miete! Aber woher nehmen, wenn nicht stehlen?
Letzte Woche war ich in einer Ausstellung der Künstler Gilbert & George. Sie heisst «The Great Exhibition». Ein simpler Titel. Aber damit kommen Künstler durch. Die können ein Bild ja auch einfach «Ohne Titel» nennen. Oder «Ohne Titel 2». Das kauft man ihnen ab. Ich werde da immer ein bisschen neidisch, wie einfach die Künstler immer wieder davonkommen. Aber egal, denn: Ein Buchtitel muss her, und zwar einer, der hypnotische Kräfte besitzt. Damit sich das Ding dann verkauft wie von alleine oder frisch geschnitten Brot.
Entweder ist ein Titel wie ein Faustschlag, bestehend aus bloss einem Wort, so wie «Freiheit» oder «Unschuld» oder «Verblendung». Man liest ihn, und alles ist sofort klar. Oder aber er ist wie ein kleines Indoor-Feuerwerk, das die Sinne bezirzt und die Konsumentenseele streichelt. Ein Titel, in den man sich verliebt, der einem ein Lächeln ins Gesicht zaubert. So wie «Der Gesang der Flusskrebse». Das ist einer der an den Kassen der Buchläden derzeit erfolgreichsten Romane. Aber auf so einen Titel muss man erst mal kommen! Und leider gibt es dort, wo mein Buch handelt, keine Flusskrebse. Würmer kommen in meinem Buch vor. Regenwürmer. Aber Würmer sind schlechte Sänger, das ist weitherum bekannt.
Ich ging zum Bahnhofskiosk. Dort werden nur Bücher mit schnell funktionierenden Titeln verkauft. Naiv fragte ich: «Ich suche ein Buch für eine kranke Freundin, und ich kenne mich nicht aus. Welches läuft denn so am besten?» Die Kioskfrau griff ein Buch vom Regal und reichte es mir. «Hochzeit in der kleinen Sommerküche am Meer», las ich. «Ist ein Renner», sagte sie und reichte mir gleich noch ein Buch, von derselben Autorin: «Sommer in der kleinen Bäckerei am Strandweg». So was zieht! Gefühle in Worte gefasst und zu einer wunderbaren Perlenkette der aufpoppenden Assoziationen aufgereiht. Blöd natürlich: Mein Buch spielt nicht am Meer. Es gibt noch nicht einmal einen See, bloss einen Fluss, der eigentlich mehr ein Rinnsal ist.
Vom Kiosk ging ich in einen seriösen Buchladen, schwer arbeiteten auf dem Weg dorthin die Maschinen im Steinbruch meiner Gedanken. Der Peter Handke etwa, der Nobelpreisträger, der hatte immer super Titel, auch wenn sie teils falsch waren. «Die Angst des Tormanns beim Elfmeter» etwa. Super Titel, obwohl kein Torwart beim Elfmeter Angst haben muss. Dem Schützen gehört die Angst. Der Tormann kann nur gewinnen. Trotzdem wurde das Buch Weltmeister.
Im Buchladen zog ich dieselbe Nummer ab wie zuvor. Wie alt denn die Freundin sei, fragte die Buchhändlerin. «Jung!», sagte ich. Sie nickte, lächelte, bald lag ein Roman in meinen Händen. Ich las den Titel: «Superbusen». «Ist gerade in aller Munde», sagte die Buchhändlerin. Ich starrte auf den «Superbusen»-Umschlag. Mit einer gewissen Erleichterung sah ich, dass eine Frau den Roman geschrieben hat. Es sei «das Buch der Stunde», hörte ich, liess es aber sein zu fragen, was denn sein würde, wenn diese Stunde vorüber wäre.
Ich kaufte den «Superbusen», weil: Ich kann einen Laden nicht verlassen, ohne etwas gekauft zu haben, weil ich sonst denke, die anderen würden mich anblicken und denken, ich hätte etwas gestohlen. Auf dem Nachhauseweg hielt ich «Superbusen» so in der Hand, dass niemand den Titel lesen konnte, und ich spürte: Je weiter ich mich von der Buchhandlung entfernte, desto näher kam ich der Sache mit dem Titel für mein Werk. Und dann hatte ich ihn! «Die Angst der Flusskrebse beim Gesang der Superbusen in der kleinen Sommerküche neben der kleinen Bäckerei am Strandweg im Herbst».
Bin ich genial oder genial?
Max
PS Song zum Thema: «The Book I Read» von Talking Heads vom Album «Talking Heads: 77», 1977. Was für ein Titel! Musiker sollte man sein!
PPS Oder wie wäre: «Supertitel»?