LIEBER KLUMPEN
Wenn man zu Federkiel und Pergament greift oder in die Tasten des Computers haut, um einen echten oder elektronischen Brief zu schreiben, dann meistens, um sich zu beklagen, um etwas anzuprangern, um zu schimpfen. Geht mir oft auch so. Das Schreiben von Briefen ist nichts anderes, als beim Wäschetrockner das Flusensieb rauszunehmen und zu reinigen: innere Hygiene. Doch dieses Mal habe ich eine frohe Botschaft, die ich dir verkünden darf. Ich habe mich verliebt.
In den Jura musste ich reisen – und damit meine ich nicht die erdgeschichtliche Periode zwischen Trias und Kreide, als der Archaeopteryx dem Allosaurus Saures gab und sich mit ihm um Stegosaurus-Steaks balgte, keine Zeitreise also, sondern bloss eine mit dem Auto in jene ferne Ecke der Schweiz, die wie eine vergessene Welt sich an den Rand des Landes schmiegt. Allerdings stelle ich mir eine Zeitreise 150 Millionen Jahre in die Vergangenheit nicht viel beschwerlicher vor, als zu Stosszeitennähe mit dem Auto die A1 zwischen Zürich und Bern zu befahren. Ich hasse diese Autobahn. Wie gerne hätte ich den Zug genommen, musste aber in einen so einsamen Zipfel, dass eine Reise mit dem öffentlichen Verkehr unmöglich war.
Doch es gibt ja das Radio. Ich bin ein begeisterter Radiohörer, denn mir gefällt der Gedanke, dass mir jemand Musik vorspielt, die mir gefällt. Natürlich könnte ich meine eigenen CDs in das Gerät im Auto schieben, aber dann wüsste ich ja bereits, was ich zu hören bekäme, noch bevor ich es hörte. Das ist ein bisschen so, wie sich selber zu berühren: nicht dasselbe, wie wenn jemand anderes einen streichelt, oder?
Nun ist es so, dass ich mit zunehmendem Alter radiomässig ungeduldiger werde. Wenn mir etwas nicht passt, wechsle ich den Sender. Erschwerend hinzu kommt der Umstand, dass ich unfähig bin, die Sender meines Autoradios zu programmieren – und der Vorbesitzer des Wagens hat bloss drei Sender gespeichert. Ich kann wählen zwischen DRS-1 *, 2 oder 3 («Du musst dich entscheiden»). DRS-1: ein Dudelduett von Francine Jordi & Florian Ast. Schnell Knopf drücken! DRS-2: Geigengejammer. Knopf drücken! DRS-3: Die Reimlexikonrocker von Pegasus. Knopf drücken! Aber bald lande ich wieder bei DRS-3: Justin Bieber. Dann Andreas Bourani. Kommerzkollaps! Dreissig Minuten DRS-3, und man kommt sich vor wie frisch lobotomisiert, auch wenn ich zugeben muss, dass ich nicht weiss, wie es sich anfühlt, frisch lobotomisiert zu sein, sondern mir bloss die Vorstellung davon vorstellen kann.
Bei der Raststätte Grauholz übermannte mich das Grauen, ich hielt es nicht mehr aus, hämmerte auf das Radio ein, löste so unabsichtlich den automatischen Sendersuchlauf aus – und plötzlich lief da ein Song, der meine Ohren wachsen liess zur Grösse von Wiener Schnitzeln. Ich war bei Couleur 3 gelandet, dem welschen Pendant zu DRS-3.
Um es kurz zu machen: Ich hörte in der Folge so viel gute Musik, von der ich nichts gewusst hatte (und ich bilde mir ja ein, diesbezüglich gebildet zu sein), hörte so viel Spannendes, dass ich mich, kaum am Ziel angekommen, bereits wieder auf die Heimfahrt freute. Auch der neunzigminütige Stau als Folge eines Unfalls störte mich nicht die Bohne, im Gegenteil: Ich hörte Couleur 3 und lernte! Zwischen den Songs sprachen Leute zwar in dieser komisch schwurbeligen Sprache, aber das war egal; die Musik war genial.
Als ich abends spät daheim wieder ankam, war ich wie besoffen von der gehörten Musik. Es war, als hätte ich einen neuen Kontinent entdeckt. Ich war geflasht! Ich sagte meiner Frau, kaum war ich zur Wohnungstür hereingestürmt: «Pack die Sachen. Wir ziehen ins Welschland.» Als ich ihren fragenden Blick sah, sagte ich, ich würde ihr während der Fahrt alles erklären. Obwohl ich wusste, dass ich dann nicht reden, sondern Radio hören würde, Couleur 3. Und ja, ich denke: Es muss Liebe sein.
Mit roten Ohren grüsst Max
PS Nur eine von vielen Bands, die ich auf dieser Autofahrt dank Couleur 3 habe kennen lernen dürfen: Juniore mit ihrem Song «Ah bah d’accord», 2019. Dass die Sängerin die Tochter eines Nobelpreisträgers ist, ist aber eine ganz andere Geschichte.
* Ich weiss, es heisst jetzt anders, nicht mehr DRS, sondern Radio SRF glaubs; aber es gibt gewisse Dinge, die zu akzeptieren ich mich weigere. Renitenz ist einer der Reize des Alterns.