• April 2019

LIEBER HERR CIRILLO

Die Geschichte, die ich Ihnen erzählen möchte, sie ist klein. Als neuer Konzern­leiter der Schweizer Post sind Sie sich sicherlich grosse Geschichten gewöhnt. Aber sind es nicht die kleinen Geschichten, die – geschichtet und getürmt, gestapelt oder einfach auch auf einen Haufen gerührt – zu dem werden, was man gemeinhin «das Leben» nennt? Und sind nicht die kleinen und kleinsten Dinge die, die die grossen Unter­schiede machen? Ein Kieselstein etwa ist, verglichen mit dem Grosshorn (3754 m. ü. M.), zugege­be­ner­massen klitzeklein. Im Wanderschuh an jenem Berg jedoch gewinnt so ein Kieselstein ungemein an Grösse.

Da fällt mir ein: Ich sass mit einem Bekannten in einem Restaurant. «Was willst du trinken?», fragte der Bekannte. «Ein Glas Petite Arvine», sagte ich, denn ich hatte diesen herrlichen Weisswein aus dem Wallis in letzter Zeit gar lieb gewonnen. Der Bekannte nickte, ging zum Tresen und kam mit zwei Gläsern zurück, wir prosteten uns zu. Nach dem ersten Schluck sagte ich: «Grossartig!» Ich hielt das Glas ins Licht, äugte einäugig, rief begeistert: «Herrlich, die grünlichen Reflexe im goldenen Gelb!» Ich schob meine Nase tief in das Glas. «So elegant, das Bukett; vielschichtig, Banane, Mango aus Ouagadougou, auch Feuer­stein­nuancen, zart mineralisch, fein und weich im Antrunk, aber hey: straffe Säure! Und dieser salzige Abgang! Passt übrigens gut zu Süsswas­serfisch.» In einem Zug leerte ich das Glas, da bemerkte ich den etwas verlegenen Gesichts­ausdruck meines Bekannten. Er räusperte sich, meinte: «Ich hab vergessen zu sagen, äh, es ist ein Pinot grigio. Sie hatten keinen Petite Arvine im Offen­aus­schank.» Ich dachte: Macht doch keinen Unter­schied, oder?

Auch dies ist bloss eine dieser kleinen Geschichten, jedoch mit grossem Gefühl von Dummheit. Deshalb aber schreibe ich Ihnen gar nicht, sondern wegen des Konzerns, dem Sie neuerdings vorstehen, als Leiter: Neulich stand ich auf dem Helve­tiaplatz in Zürich. Dies ist ein recht zentraler Ort, bekannt auch als Ausgangspunkt der grossen Klimademos der jüngeren Vergan­genheit. Ich traf dort einen Kollegen, dem ich Geld schuldete, einen niedrigen dreistelligen Betrag, um es ungenau genau zu sagen. Als Kunde von PostFinance sagte ich: «Hey, ich geh schnell an den Postomaten und lass dein Geld raus.» Aber dann stellte ich fest: Den Postomaten, aus dem ich in der Vergan­genheit immer so viel Geld gezogen hatte, den an der Molken­strasse, den gibt es nicht mehr. Auch die dazuge­hörige Postfiliale gibt es nicht mehr. Schon eine Weile nicht mehr. Natürlich! Ich hatte ja noch gegen deren Schliessung demons­triert, damals! Ich sagte zu meinem Gläubiger: «Kein Problem, die Post ist ja modern, also postmodern!» Ich zückte mein Smartphone, und flugs war via Homepage der nächste Standort eines Postomaten evaluiert: Langstrasse 83, bloss ein paar Schritte entfernt. Plaudernd gingen wir dorthin. Aber da gab es keinen Postomaten, bloss eine neue Chickeria-Filiale. Bis ich, durch die Glasscheibe spähend, drinnen einen gelben Kasten erahnte. Leider war es erst halb zehn Uhr morgens, es dauerte noch eine Weile, bis das Chickeria öffnete. «Die stehen auch nicht mit den Hühnern auf», sagte ich, «aber komm, warten wir. Dafür spendiere ich dir dann einen Poulet-Kebab mit Fonduebrot.» – «Ich bin Veganer», sagte mein Bekannter, «ich würde niemals nach Huhn riechendes Geld akzep­tieren; und hör mal, wenn du auf Zeit spielen willst, kann ich die Schul­den­ein­treibung auch exter­na­li­sieren. Kennst du russen-inkasso.com aus Singen am Bodensee?»

Bis zum nächsten Postomaten waren es 1,1 Kilometer. Und zurück nochmals 1,1 Kilometer. «2375 Schritte», sagte ich meinem Bekannten, als ich ihm leicht ausser Atem die Hunderter in die Hand drückte, «hab sie selbst gezählt. Jetzt muss ich heute nur noch 7625 Schritte gehen, dann ist das von der Krankenkasse empfohlene Gesund­heits­ta­gessoll erreicht. Man sagt ja: Zehntausend Schritte am Tag, dann wird man hundert Jahre alt – wenn man nicht unters Auto kommt. Ist eben gut, Kunde der Post zu sein. Hält schön fit!»

Lieber Herr Cirillo, ich bin bloss ein kleiner Kunde, der eine kleine Geschichte erzählt. Nichts Grosses; wie gesagt.

Mit Grüsse Max Küng

PS Song zum Thema: «Against All Odds» von The Postal Service, 2004.