• September 2020

LIEBER ERNŐ RUBIK

Sie sind der Erfinder des Zauberwürfels, der im Sommer vor genau vierzig Jahren in die Läden kam, zum «Spiel des Jahres» erkoren wurde, fortan wegging wie frisch geschnitten Brot und die Pausenhöfe flutete – damals hasste ich Sie und Ihren Würfel. Natürlich musste auch ich so einen Zauberwürfel haben, aber schnell durfte ich feststellen: Ich war zu dumm, um ihn zu lösen. Einfach zu dumm. Unter grosser Anstrengung schaffte ich eine Seite. Doch nie mehr. Ausser einmal, als ich ihn, nicht ohne Geschick und mit viel Kraft, auseinanderbrach, in seine Einzelteile zerlegte und korrekt wieder zusammenbaute. Allerdings getraute ich mich nicht, diesen Betrugswürfel als gelöst herumzuzeigen – dazu fehlte es mir dann doch an der nötigen Behauptungsenergie. Ein gelöster Rubik’s Cube blieb für mich unerreichbar – also fand ich mich mit meiner Beschränktheit ab und lebte mein Leben in Dummheit weiter.

Der Würfel verschwand, und wenn ich ihn in den folgenden vierzig Jahren zufälligerweise wiedersah – auf einem Flohmarkt etwa oder als Deko-Element in einer Achtzigerjahre-TV-Show –, wurde ich jäh an die ferne Zeit erinnert. Der Würfel war ein fortdauerndes Mahnmal für mein kindliches Scheitern, ein Gedenkstein für das Aufzeigen von Limits und die frühe Erkenntnis der eigenen Dummheit. Der Zufall wollte es, dass Ihr Zauberwürfel zur Corona-Zeit wieder in mein näheres Blickfeld geriet. Genauer waren es die Hände von Kindern, in denen ich das Ding sah. Und ich sah noch etwas: Die Kinder lösten den Würfel irre schnell. Innert Sekunden. Fliegende Finger, ein rhythmisch ratterndes Geräusch, ein Farbenwirbel, dann ein zufriedenes Grinsen: Es schien ein Kinderspiel zu sein.

Also setzte ich mich hin im stillen Kämmerlein und schaute Youtube-Videos, den Trauma-Kubus in der Hand. Ich lernte all die nötigen Lösungsschritte, die man natürlich nicht Lösungsschritte nennt, sondern Moves, die schöne (und vor allem einprägsame) Namen tragen wie «Auto», «Telefon» oder «Luigi riecht richtig lausig». Einen ganzen Tag brütete ich über dem Würfel, die Arbeit war nur unterbrochen von kurzen Nagelkaupausen. Immer wieder scheiterte ich. Immer wieder begann ich von vorne. Beharrlich. Immer kam ich ein Stück weiter. Und noch ein Stück. Und noch ein Stück. Dann, kurz vor Büroschluss, war der erste Zauberwürfel meines Lebens geschafft. Der erste gelöste Zauberwürfel meines Lebens! Free Solo! Was für eine Leistung! Was für ein Gefühl!

Der sorgenvolle Kopf des Büronachbarn erschien in der Tür. Er fragte: «Warum hast du so geschrien?»Vierzig Jahre hatte ich gebraucht, um dahinterzukommen: Ich war damals gar nicht zu dumm, sondern einfach bloss zu faul. Denn das Lösen des Zauberwürfels ist keine Frage der Intelligenz, sondern des Fleisses und der Beharrlichkeit. Diese Erkenntnis traf mich wie ein Blitz, und dem Blitz folgte der Donner des Haderns: Was hätte aus mir werden können, wäre ich damals schon dahintergekommen! Nun aber ist Ihr Würfel, lieber Herr Rubik, mir ein schöner Zeitvertreib geworden, den ich auch gerne allen Verschwörungstheoretikern und Corona-Leugnerinnen ans Herz legen möchte. Denn im Radio sagte ein Fachmann: Der Grund für die um sich greifende Verschwörungserotik sei nichts als eine Sehnsucht Verunsicherter nach der erklärbaren Einfachheit, nach Ordnung und Übersicht, vor allem jetzt, da die Gesellschaft sich stets an die sich schnell verändernde Wirklichkeit anpassen muss. Der Würfel ist der Würfel. Nichts mehr. Nichts weniger. Und vor allem: Es gibt eine Lösung, die auch die oder der Dümmste schaffen kann. Das habe ich selbst herausgefunden.

Mit voll logischen Grüssen Max Küng

PS: Song zum Thema: «The Logical Song» von Supertramp vom Album «Breakfast in America», 1979. Und wer nun denkt, die damals eingeläuteten Achtzigerjahre seien schlimm gewesen, der kann anhand der Coverversion dieses Songs der Band Scooter von 2002 hören: Die Nullerjahre waren schlimmer. Viel schlimmer.

PPS: Heute schaffte ich den Würfel in einer Dolce-Vita-Zeit von 4:50.04. Der Weltrekord liegt bei 3,47 Sekunden. Ich denke, da geht noch was.