LIEBER CHILLY GONZALES
Im Stau, im Auto, im Radio, öffentlich-rechtlich, erstes Programm, nachmittags, Wunschkonzert. Da hört man, was die Menschen hören, wenn sie hören dürfen, was sie hören wollen. Einer rief aus dem Spital an, wünschte sich zur eigenen Genesung den Song «Lichtblick» von einer Band namens Lichtblick, erschienen auf dem Album «Lichtblick». Meine Hand wollte vorschnell vorschnellen, um dem Gerät den Garaus zu machen, doch ich kontrollierte den Impuls, denn manchmal muss man stark sein. Es ist wichtig, dann und wann der Wirklichkeit ins Auge zu sehen respektive ins Ohr zu hören. So bekommt man ein Gefühl für die Realität ausserhalb der privaten Blase. Die Band Lichtblick ist eine deutsche Zuckerguss-Retorten-Schlager-Girlgroup mit Techno-Unterrock. Der Sound: unerträglich. Die Texte: Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Eine Zeile geht so: «Ich möchte der Lichtblick für dich sein/So hell wie die Sonne, nur viel wärmer.» Eine andere: «Ich möchte der Lichtblick für dich sein/So gross wie die Liebe, nur viel stärker.» Ich dachte: Okay, die Sonne ist im Kern so 15 Millionen Grad heiss. Wenn die Sängerin wärmer sein will, was könnte sie dann sein wollen? Eine Atombombe? Ich dachte: Okay, stärker als die Liebe, bei gleicher Grösse aber? Schwierig. Hass? Andere Zeile: «Ich will dich berühren und dabei explodieren/ Ich will mit dir gehen.» Klingt nach kruden Fantasien einer Bombenentschärferin. Oder einer Selbstmordattentäterin. Ist der Schlager von Dschihadistinnen unterwandert?
Natürlich ist die Musik keine exakte Wissenschaft, gerade deshalb hat man sie ja so gern (obwohl beim Schlager durchaus viel kühles Kalkül dabei ist). Das Tolle an Ihrer Musik, lieber Herr Gonzales: Sie ist instrumental. Kein Wort wird verloren. Es sind bloss kurze Stücke für das Klavier mit rätselhaften Titeln (z. B. «Famous Hungarians»). Ich liebe Instrumentalmusik, denn manchmal hat man einfach keine Lust auf Worte und Botschaften, vor allem, wenn man den ganzen Tag über beruflich mit Buchstaben gerungen hat. Deshalb sind auch Haustiere bei vielen Menschen so beliebt: Sie sind da, sie leben, sie haben Augen – aber sie können nicht sprechen.
Ihr erstes Album hiess «Solo Piano», das zweite «Solo Piano II», und Ende des letzten Jahres erschien «Solo Piano III». Gestern bin ich per Zufall über Letzteres gestolpert, im Media-Markt, wo ich eigentlich bloss ein von Apple monopolisiertes Kabel hatte kaufen wollen zu einem zynisch hohen Preis *.
Wissen Sie, seit Jahren schon ist Ihr erstes Album die Einschlafmusik meiner Kinder. Noch heute höre ich jede Nacht diese feinen Stücke aus dem Kinderzimmer wehen, also wohl zum tausendsten Mal oder öfters schon – und wissen Sie was? Ich bin ihrer noch nicht müde. Unglaublich, aber wahr. Und auch die neuen Stücke klingen so, als könnte man sie täglich hören, eine Dekade lang.
Etwas aber möchte ich doch monieren, denn zwar bin ich ein begeisterter Musikhörer, aber auch ein kritischer Konsument. «Solo Piano III» kommt auf Vinyl als Doppelalbum daher. Knapp 40 Franken musste ich dafür bezahlen. Es sind aber bloss 38 Minuten und vier Sekunden Musik darauf. Schon nach zehn Minuten und 46 Sekunden muss man die erste Schallplatte wenden, weil die Rille zu ihrem Ende kommt – diese Zeit reicht mir kaum, um vom Plattenspieler zum Sessel zu gehen und abzusitzen. Auch ist die Ausstattung des Doppelalbums spärlich. Klar, Texte auf einem Beiblatt gibts nicht, aber warum nicht die Noten? Oder wenigstens einen Downloadcode für MP3-Daten? Will ich mir Ihre Musik auf dem Computer anhören, muss ich sie nochmals kaufen. Ist ein bisschen Geldmacherei, oder? Aber renn ich deswegen zum «Kassensturz»? Nein, natürlich nicht, denn was sind schon ein paar schnöde Fränkli, verglichen mit grosser Klimperkunst, die einen denken lässt: Ach, wäre doch nur alles im Leben so schön, so leicht, so wortlos wunderbar.
Mit nur leicht dissonanten Grüssen Max Küng
PS Es ist übrigens ein Vorhaben meinerseits, eine Kolumne zu schreiben, die instrumental ist, also ohne Worte auskommt; noch aber ist es mir nicht gelungen.
*Wie der Queen-Gitarrist Brian May auf Instagram kürzlich schrieb: «Apple has become an entirely selfish monster. But they have us enslaved. It’s hard to find a way out.»