• November 2022

LIEBE UNBEKANNTE PERSON

Leider ist das Gedächtnis nicht so zuverlässig und präzis wie ein Schweizer Uhrwerk, sonst wüsste ich noch alle Details dieser Geschichte, die mir kürzlich wieder einfiel, aber eben: nur zu Teilen.

Ich erinnere mich, dass Sie mir einen Brief geschrieben hatten, in dem Sie mir diese Geschichte erzählten, also suchte ich ihn. Doch er blieb unauffindbar. Den Brief hatten Sie mir nach dem Kauf einer Uhr geschrieben. Genauer war es eine gebrauchte Rolex Oysterdate Precision aus den Fünfzigerjahren. Der Kauf muss vor zwölf Jahren gewesen sein – und er hatte für Sie eine Bedeutung. Sie waren zuvor in Libyen tätig, auf der Schweizer Botschaft, wenn ich mich recht entsinne. Und dann kam die sogenannte Libyen-Affäre, die zu politischen wie auch wirtschaftlichen Verspannungen mit globalen Dimensionen führte. Die Situation wurde brenzlig und sie fassten in der Ferne den Entschluss, sich mit einer Uhr zu belohnen, sollten sie es heil aus der wüsten Situation im Wüstenstaat zurück in die Schweiz schaffen.

Ich kann das gut verstehen, dass man sich einen Gegenstand mit gewissem Wert zulegt, der einen fortan begleitet und an etwas erinnert, das man erlebt oder geschafft hat. Uhren eignen sich ja bestens, um mit Bedeutung aufgeladen zu werden: Man kann sie die ganze Zeit über tragen, sie bei sich haben. Auch ich besitze einen Gegenstand, welcher mich an etwas erinnert, vom dem nur ich weiss.

Nun, nachdem die Krise in Libyen ausgestanden war, kehrten sie unversehrt zurück in die Schweiz, spazierten durch Zürich, kamen über die Gemüsebrücke und erblickten im Schaufenster eines Uhrenhändlers ein Exemplar, welches für sie genau das richtige schien: eine gebrauchte, schlichte Rolex aus den Fünfzigern. Und dort verbindet sich Ihre Geschichte mit der meinigen, denn es war die Uhr, welche ich zuvor vierzehn Jahre am Handgelenk trug. Ich hatte sie einst telefonisch bei einem deutschen Auktionshaus ersteigert, als man noch mit D-Mark zahlte. 1729 von diesen D-Mark hatte ich damals nach Deutschland überwiesen.

Ich mochte die Uhr sehr, trug ihr Sorge und erwähnte sie sogar in einer Kolumne, die Sie offenbar gelesen hatten und sich daraufhin vornahmen, genau so eine Uhr selbst auch zu besitzen. Ich schrieb: «Eine Rolex hat nur einen einzigen Nachteil: Hat man sich einmal für eine entschieden, so gibt es keinerlei Anlass dazu, sich je wieder eine andere Uhr zu kaufen oder sich überhaupt mit dem Thema zu beschäftigen. Man könnte sogar so weit gehen und behaupten, dass die Beziehung von Trägerin und Träger zur Rolex um einiges stabiler ist als jene zwischen Ehepartnern (Scheidungsrate national: 44 Prozent). Für mich gibt es keinerlei Anlass, an der monogamen Beziehung zu meiner Rolex zu zweifeln.» Gab es dann aber scheinbar doch, denn Dinge neigen eben dazu, sich zu verändern (so wie übrigens auch die Scheidungsrate, die lag 2020 nur noch bei 41,5 Prozent).

Irgendwann fand ich, dass die Uhr zu zierlich für mein Handgelenk sei, oder mein Handgelenk zu grobschlächtig für die Uhr. Ich überliess sie nicht leichten Herzens dem Händler auf der Zürcher Gemüsebrücke – und ebendort sahen Sie kurz darauf diese Uhr im Schaufenster schlummern, erstanden sie, nahmen sie mit nach Hause, als Erinnerungsstück für etwas Durchlebtes und schrieben mir diesen Brief, den ich jetzt nicht mehr finden kann.

So ging in etwa die Geschichte, wenn ich mich recht entsinne. Ich würde gerne wissen, wie es Ihnen und meiner Ex-Rolex in der Zwischenzeit ergangen ist. Es wäre schön, von Ihnen zu hören.

Mit freundlichen Grüssen, Max Küng