LIEBE SBB
Zwölf Minuten Verspätung wurden für den IC angezeigt, der um 23 Uhr ab Olten nach Zürich fahren sollte. Manche der Wartenden auf Gleis 7 fluchten. Andere blickten ärgerlich. Doch die Verspätungsmeldung schickte ein Lächeln auf mein Gesicht. Ich bin ein Freund von Verspätungen, sehe sie als Chancen: Die in Aussicht gestellten zwölf Minuten waren kein drohender Verlust, sondern ein vielversprechender Gewinn.
Ausserdem war ich ja in Olten! Da gibt es das Bahnhofbuffet. Das ist berühmt. Die in den 1970er-Jahren beliebte Boygroup «Gruppe Olten» kam dort zusammen. Es wurde von so manchem Schriftsteller schon besungen. Und: Dort war ich noch nie zuvor in meinem Leben gewesen. Ich würde mich also in das Buffet begeben, mich unter die lokalen Literaten mischen, ein Halbeli Roten bestellen und den Füller zücken, um es den anwesenden Autoren gleichzutun. Zwölf Minuten war zwar etwas knapp, um einen Bestseller zu schreiben und ein Halbeli zu trinken, aber es würde schon hinhauen – ich bin in Sachen Multitasking ja nicht gänzlich unbewandert.
Enttäuscht stellte ich fest, dass das mythische Bahnhofbuffet in Dunkelheit lag. Es schliesst unter der Woche um 22 Uhr. An den Wochenenden gar um 21 Uhr. Die Schriftsteller in Olten scheinen früh zu Bett zu gehen – oder zu Hause zu saufen.
Licht brannte noch im nahen «Pendolino», der Selbstbedienungsbar des von der ZFV-Gastronomiegruppe betriebenen Personalrestaurants Chez SBB. Drinnen empfing mich eine Kühlvitrine. «Grab ’n’ go», stand dort. «Homemade», frohlockte ein grosses Schild über der Kasse. Die Dekoration bestand aus einem schlaufengeschmückten Holzpaletten-Stapel, auf dem zwei Weinflaschen lagen inmitten eines Ensembles aus Plastikfrüchten (Trauben, Äpfel, Birnen) sowie einem winterlichen Grabgesteck.
In der Wärme registrierte ich ein Bedürfnis. Doch das WC war durch einen Zahlencode gesichert. Ich fragte danach. Die Frau an der Kasse sagte: «1871.» – «1871? Das ist doch eine Jahreszahl!», rief ich. – «Äh», sagte die Frau, «nein, es ist der Toilettencode.»
Wo sie recht hatte, hatte sie recht, aber ich auch, denn jede Zahl ist selbstverständlich eine Jahreszahl, so wie sie auch ein potenzieller Türcode ist. Zahlen können alles sein, das ist das Wunderbare an ihnen.
«Aber 1871, da ist doch etwas Grosses passiert», sagte ich, dachte angestrengt nach. Die Frau blickte misstrauisch. Menschen, die auf oder in der Nähe von Bahnhöfen arbeiten, haben ein Sensorium für Klienten mit eventuellem Problempotenzial.
«Es ist der Toilettencode», wiederholte sie, als kämen ihre Worte aus einem Dyson-Händetrockner. Der Code zum Kot!, hätte ich fast gesagt, aber ich sagte es nicht, denn hinter mir drängten schon bedrohlich brummelnd und mit Bierflaschen klimpernd Reisende mit Riesendurst, ausserdem riet mir freundlich, aber mit Nachdruck mein Bedürfnis, endlich das WC aufzusuchen.
Ich tippte die Zahl ein. Die Türe gab den Weg frei. Ein Gang. Eine Treppe in den Keller. Verwinkelt. Eng. Düster. So müssen Gänge aussehen, die in Foltergefängnisse führen. Und die Toilette sah eher aus wie ein Showroom für Leitungs- und Rohrbau. Würde ich einen Reiseführer mit dem Titel «Die trostlosesten Orte der Schweiz» erstellen, gehörte die Chez-SBB-Toilette unbedingt dazu. Trotzdem war es ein Ort der Erlösung. Ich dachte: Das Leben kann so schön sein, auch an den traurigsten Orten. Und umgekehrt.
Auf die Minute pünktlich mit zwölf Minuten Verspätung verliess der IC den Bahnhof Olten. Ich zückte mein Handy, googelte. 1871 ist in der Tat viel los gewesen. «Natürlich!», rief ich aus, als der Triebwagen uns in die Dunkelheit zog. «Wie konnte ich das nur vergessen! Sieg der Preussen im Deutsch-Französischen Krieg! Der Zahnarzt J. B. Morrison liess seine Erfindung der Tretbohrmaschine patentieren! Albert Jodlbauer wurde geboren, der grosse Toxikologe! Alles 1871!»
Ich merkte mir alles. Falls ich je wieder nach Olten käme, würde ich der Frau an der Chez-SBB-Kasse alles erzählen – und dann ins Bahnhofbuffet gehen und einen Bestseller schreiben.
Liebe Grüsse Max Küng
PS Song zum Thema: «Happy Station» von Fun Fun, 1983.
PPS Vorschläge für den Reiseführer «Die trostlosesten Orte der Schweiz» bitte an: max.kueng@dasmagazin.ch. Danke!