LIEBE FRAU ODER LIEBER HERR KELLER
Beim Aufräumen meines Büros stiess ich auf eine mir unbekannte Papiertragetasche. Als ich sie näher inspizierte, fand ich darin nichts als Briefe und Postkarten, alle adressiert an mich und versehen mit Stempeln aus dem Jahr 2017. Die Briefe waren ungeöffnet. Sofort machte ich mich an die Arbeit – und fluchte leise, da ich keinen Brieföffner besitze, denn ich dachte immer, Brieföffner seien ganz und gar nutzlose Dinge, welche bloss Krimiautorinnen und -autoren brauchten – und die auch nur in ihren Büchern als Tatwaffen für mordgeile Protagonisten und innen. Couvert um Couvert öffnete ich, sachte riss ich sie auf, denn ich dachte: Vielleicht steckt in einem der Umschläge ein Geldschein! Könnte ja sein. Eine alte Schuld, die jemand begleichen wollte. Oder ein Bestechungsversuch («Bitte schreiben Sie doch mal einen Artikel über die Vorzüge der Kernenergie, als Unkostenentschädigung beiliegend 20 Franken»).
Doch als ich den Stapel durchhatte, stellte ich nüchtern fest: Es waren bloss Neujahrsgrusskarten, Einladungen zu Kunstvernissagen und kommune Leserbriefe, ein Haufen bester Wünsche, Lob und Tadel. Kurz dachte ich daran, die Briefe wieder in die Tüte zu stecken und diese zurück in die Ecke zu stellen. Oder, noch einfacher, alles in den Müll zu schmeissen. Doch dann rief eine Stimme in mir: «Nein! Halt ein!» Denn eine jede Zuschrift verdient eine Antwort. Der Brief von Herrn Steiner aus Ostermundigen ebenso wie jener von S. Kern aus Uster, von Herrn Bieler aus Chur und von Frau Oggler aus Aarwangen, welche mich freundlich, aber bestimmt auf den Unterschied zwischen den Wörtern «scheinbar» und «anscheinend» hinwies respektive auf die von mir scheinbar falsche Anwendung dieser Begriffe.
Auch wenn die Briefe vor drei Jahren geschrieben worden waren, mancher Verfasser oder manche Verfasserin sich vielleicht gar nicht mehr daran erinnern mag, so verlangten sie doch nach Antwort. Also setzte ich mich an den Tisch, griff zum Kugelschreiber und schrieb Brief um Brief, denn das Erledigen von alten Lasten hat durchaus seinen Reiz. Und mit jedem beantworteten Brief fiel etwas Schuld von mir ab, war ich eine Tranche leichter, ja, es war ganz so, als hobelte ich Scheibe um Scheibe von dem mir schwer im Magen liegenden Schwartenmagen der Altlasten.
Mir hat einmal ein Psychiater von einer Frau erzählt, die hat ihre Post auch nie aufgemacht, sondern einfach in die Handtasche gesteckt. Rechnungen, Briefe, Mahnschreiben: einfach alles in die Tasche! Und als die Handtasche voll war, ging sie in eine schicke Boutique und kaufte sich eine neue Handtasche. Bis dann auch die wieder voll war, sie wiederum eine neue kaufte – und am Ende die Wohnung voller voller Taschen war! Ganz so schlimm ist es bei mir glücklicherweise nicht. Doch Ihren am 11. Dezember des Jahres 2017 in Zürich-Mülligen abgestempelten Brief, liebe Frau oder lieber Herr Keller, habe ich noch nicht beantwortet, denn Sie haben keinen Absender notiert! Weder auf dem Couvert noch auf dem eigentlichen Brief ist Ihre Adresse zu finden. Und im Telefonbuch gibt es 13 052 Einträge zu «Keller». Würde ich allen Kellers im Land schreiben, so dauerte dies nicht nur arg lange, es würde auch meine Portokasse übermässig strapazieren, selbst mit B-Post-Versand. Gerne würde ich Ihnen schreiben und die in Ihrem Brief gehegten ungeheuerlichen – ja schockierenden – Vermutungen, eine gewisse Person betreffend, bestätigen. Ausserdem finde ich es sehr sympathisch, dass Sie nebst meinen Texten ausschliesslich die «Gazzetta dello Sport» sowie die «Sport Bild» lesen. Bitte lassen Sie mich Ihre Adresse wissen, dann werde ich Ihnen subito innert den nächsten drei Jahren antworten.
Mit späten, aber umso herzlicheren Grüssen (quasi mit Grussverzugszinsen und zinseszinsen)
Max Küng
PS Song zum Thema: «No Letter Today» von Ted Daffan & His Texans, 1942, gerne auch in der Instrumentalversion von Ace Cannon, 1964, trotz des solierenden Saxofons (siehe auch Kolumne «Namen. Und Verdruss nach Noten», erschienen in diesem Magazin am 27. Mai 2000, nachzulesen auf Seite 337 im äusserst empfehlenswerten Buch «Einfälle kennen keine Tageszeit», erschienen in der Edition Patrick Frey, 2005, zurzeit erhältlich zum sensationellen Resterampen-Aktionspreis von 22 Franken (anstatt 43 Franken).