LIEBE DENIKA KASSIM
Sie sind Spitzensportlerin und leben auf den Komoren, einer Inselgruppe bei Madagaskar oben links, und vor allem haben Sie heute Geburtstag: Herzlichen Glückwunsch! Damit sind Sie natürlich nicht alleine; über den Daumen gepeilt schneiden heute gut 21 Millionen Menschen ihre Kuchen an, blasen Kerzen aus, während sie die Augen schliessen und sich 21 Millionen Wünsche wünschen. Am 8. August wurden viele mehr oder weniger berühmte Berühmtheiten geboren, auch wenn manche davon bereits schon wieder verstorben sind, so etwa der britische Postzugräuber Ronnie Biggs oder Piero Drogo (kein Mafiaboss, wie man seines Namens wegen meinen könnte, sondern ein ehemaliger Automobilrennfahrer). Sowieso hat dieser Tag es in sich: Man begeht mit lautem Miauen und Maunzen den offiziellen Weltkatzentag! Im Jahr 1974 kündigte Richard Nixon wegen der Watergate-Affäre seinen Rücktritt an! Und es jährt sich der Überfall auf einen Postzug in Grossbritannien, der als «Great Train Robbery» in die Geschichte einging und an dem der oben erwähnte Ronnie Biggs beteiligt war, der im Jahr 1963 seinen 34. Geburtstag auf diese Art beging, mit seinen Komplizen Millionen erbeutete und sich dann ein halbes Leben lang von einem Scotland-Yard-Polizisten namens Jack Slipper jagen liess. (Das waren noch Namen: Jack Slipper!)
Das ist aber noch nicht alles! Heute vor zwölf Jahren entzündete der ehemalige Spitzenkunstturner Li Ning in Peking das olympische Feuer. Sie, liebe Denika Kassim, waren damals erst elf, aber acht Jahre später sahen Sie die olympische Flamme in echt, als Sie in Rio für Ihr Land an den Start gingen, beim 100-Meter-Lauf der Frauen. Mit Ihrer Zeit von 12,53 Sekunden schieden Sie zwar bereits im Vorlauf aus, aber egal: Sie sind dabei gewesen. Und darum geht es ja bei Olympia.
Auch ich bin dabei, ein jedes Mal. Und zwar nicht nur für Sekunden, sondern stunden-, tage-, wochenlang – wenigstens vor dem Fernseher, bequem auf dem Sofa sitzend, mit gebanntem Blick. Was habe ich mich auf Tokio 2020 gefreut. Wäre alles nach Plan gelaufen, so würden die Olympischen Spiele dieses Wochenende zu Ende gehen. Ich hatte es vor einem Jahr schon fett in der Agenda notiert, all die Termine der verschiedenen Wettkämpfe: Tontaubenschiessen; Tischtennis; Trampolin. Am Morgen hätte ich den Fernseher angestellt, hätte mir alles reingezogen: Gewichtheben; Golf; griechisch-römisches Ringen. Denn ich kann mir kaum etwas Schöneres und Spannenderes vorstellen, als die Olympischen Spiele live im Fernsehen zu verfolgen.
Ausserdem ist dieses sich alle vier Jahre wiederholende Spektakel eine der grossen Konstanten meines Lebens, zurückreichend bis in die Kindheit, an welche ich mich nur in Fetzen und Schwarz-Weiss erinnere (Radfahrer Robert Dill-Bundi gewinnt in Moskau Gold in der Einerverfolgung und küsst gerührt die Bahn). Olympia schnürt das Leben zusammen mit seiner fünffarbigen Schlaufe.
Aber eben: Diesen Sommer gab es kein Taekwando; kein Tischtennis; keinen Triathlon; kein Synchronschwimmen; kein Skateboard; kein Sportklettern. Also blieb der Fernseher aus; stattdessen ging ich wandern, was selbstverständlich kein Ersatz sein kann. Stundenlanges Wandern ist erwiesenermassen weitaus langweiliger als stundenlanges Fernsehglotzen – vor allem aber auch viel anstrengender.
Es heisst nun einfach, etwas Geduld aufzubringen. Dann werden wir uns nächstes Jahr sehen, liebe Denika Kassim, wenn Sie wieder für die Komoren an den Start gehen. Am 23. Juli soll es in Tokio losgehen. Und raten Sie mal, wann die Schlusszeremonie über die Bühne gehen wird? Genau! Exakt heute in einem Jahr, wenn Sie wieder Geburtstag feiern, am 8. August. Ich werde auf jeden Fall dabei sein! Ich glaub, ich stell den Fernseher besser jetzt schon an.
Max Küng
PS Song zum Thema: «No Problem» von Duke Jordan, etwa in der Version mit Chet Baker an der Trompete, vom gleichnamigen Album des Chet Baker Quartet, 1980. Duke Jordan verstarb am 8. August 2006 im Alter von 84 Jahren.