• August 2020

LIEBE BERGE

Vier Wochen nun hockte und schlief, schlich und lief ich in euren dicken Schatten, im Engadin erst, dann in einem anderen Bündner Tal, das ärmer ist an Touristen, denn vor zwanzig Jahren hatte man dort per Volksabstimmung beschlossen, kein Tourismusbüro zu gründen. Man wollte euch wohl nicht mit anderen teilen. Ich kann sie verstehen, die Einheimischen, und bin insgeheim froh, denn die Armut an Rotsocken und E-Mountainbikern ist ebenso wohltuend wie der Mangel an von Menschenhand errichteten Attraktionen wie etwa Sommerrodelbahnen oder Märchenwanderwegen.

Im Engadin übrigens weilte ich in einem Hotel, zusammen mit der Familie. Sowohl Hotel wie Familie sind bekanntlich scharf geschliffene Portemonnaie-Hobel, in Kombination aber entfalten sie eine imposante Spandicke. So ist ein mehrköpfiger Hotelaufenthalt immer auch die Chronik einer angekündigten Abrechnung, denn eine Hotelfaktur ist euch Bergen thematisch nicht unähnlich: gerne hoch und steil, ja horrend, ja dann und wann furchteinflössend gar wie die exponierten Wege zur Schreckhornhütte. Trotzdem gelang es mir, die Tage zu geniessen.

Am ersten Abend steuerte ich die Hotelbar an, denn dort lagern in dem Schrank unterhalb des Regals mit den auch nicht gänzlich uninteressanten Ginflaschen die Gesellschaftsspiele, die man, ohne eine Gebühr zu entrichten, benutzen darf. Ich griff den Beutel mit den Würfeln und dem Yatzy-Schreibblock, und da sah ich: Das oberste Blatt des Blocks war bereits ausgefüllt. Und irgendwie kam mir die krakelige Schrift bekannt vor. Ich musste nicht lange studieren – es war die meinige. Logische Schlussfolgerung: Seit einem Jahr hat in diesem Hotel niemand Yatzy gespielt! Unverständlich. Was gibt es in einem Hotel in den Bergen denn anderes zu tun?! Doch ein Lächeln schlich auf mein Gesicht, als ich sah, wer damals gewonnen hatte. Und schon bald hörte man das feine Gepolter von fünf Würfeln auf das Glastischchen der Hotelbar niedergehen wie feinster Steinschlag, bald wie gejodelt und gejuchzt ein gedehntes «Yaaaaaaaatzyyyyyyy!».

Aber eben: Es ging dann von A nach B, ins andere Tal, wo die Berge nicht höher sind, aber so scheinen, steiler zudem, weil der Boden unter den Füssen tausend Meter tiefer liegt als im Engadin. Und es hat viele von euch! Was toll ist, denn ich schau euch gerne an. Tags wie nachts. Nachts vielleicht noch lieber, wenn ihr ausschaut wie sich in der Dunkelheit duckende Räuber mit in der Schwärze des Himmels kaum auszumachenden Konturen. Gäbe es euch nicht, wären viele Dinge einfacher. Man hätte nicht nur die oft eingeforderte freie Sicht aufs Mittelmeer, es wäre vom Ferienort B beispielsweise auch bloss eine Spazierfahrt mit dem Velo bis nach Chiavenna. Eine halbe Stunde, und ich sässe im Ristorante Passerini an der Via Dolzino und zöge mir das grosse Degustationsmenü rein – aber eben: Es gibt euch. Ihr steht da. Ihr macht die Dinge kompliziert. Der Weg nach Chiavenna: tausend Windungen und Wendungen, Kurven und Kehren, nach denen niemand mehr etwas essen mag. Ihr seid Unausweichlichkeiten, steile Sauhunde, die dann und wann etwas steif und hochnäsig auf einen runterblicken. Ich mag euch trotzdem, denn ihr macht die Dinge spannend – wenigstens für das Auge, denn niemals käme ich auf die verrückte Idee, auf euch rauf- oder über euch drüberzukraxeln. Als praktizierender Höhenangstler ziehe ich es vor, euch mit dem nötigen Respekt und aus einer gewissen Distanz zu betrachten. Deshalb verstehen wir uns so gut: Ich lass euch in Ruhe, ihr lasst mich in Ruhe. Friedliche Koexistenz ist der Schlüssel zum Glück.

Nun sind die Ferien vorüber. Es geht zurück ins flachöde Unterland. Ich weiss, ich werde euch schon bald vermissen, und ihr müsst mir versprechen, dass ihr auf mich wartet, denn im Herbst komme ich wieder. Aber ich weiss, dass ich mir da keine grossen Sorgen machen muss: Auf euch ist Verlass. Wenigstens auf euch! Und auf die Unberührtheit des Yatzy-Blocks im Hotel im Engadin, auf dessen oberstem Blatt zu sehen ist, wer gewonnen hat, wieder einmal, ein ganzes Jahr lang.

Bis bald

Max

PS Song zum Thema: «Mountain Top» von Daniel Johnston vom Album «Fear Yourself», 2003 – oder in der Coverversion von Built to Spill vom Album «Built to Spill Plays the Songs of Daniel Johnston», 2020.