LIEBE ALICE WEIDEL
Nach Einsiedeln sind Sie übersiedelt, so las ich. Da Sie als deutsche AfD-Spitzenpolitikerin und Twitter-Premiumhetzerin mit Ihrem eher rechten Gedankengut in der eher linken Stadt Biel aller Liberalität zum Trotz ein wenig angeeckt seien, dort, wo Sie zuvor lebten. Wobei die Frage offenbleibt, ob Sie im Kanton Schwyz nicht auch anecken werden, weniger Ihrer Gesinnung wegen, sondern wegen Ihres unorthodoxen Lebensstils (lesbisch, Partnerin mit Migrationshintergrund, Patchworkfamilie) – schliesslich gilt Einsiedeln nicht gerade als Epizentrum der Progressivität. Ihr Lebensstil führte ja auch immer wieder zu Kritik aus allerlei Lagern, inklusive Bigotterievorwürfen, so etwa die Affäre um eine scheinbare Schwarzbeschäftigung einer syrischen Flüchtlingsputzkraft für Ihre Wohnung in Biel. Aber das ist ja nun Vergangenheit, die Gegenwart heisst Einsiedeln, ein Ort mit hoher Lebensqualität und einem Reichtum an Freizeitmöglichkeiten (diverse Schützenvereine; das Kebab-Hüsli an der Hauptstrasse 73; die weltgrösste Weihnachtskrippe im «Diorama»-Museum zeigt «die ganze Opulenz des Orients»).
In Einsiedeln war ich auch schon, in der Schiessverlegung, während der Rekrutenschule. Für eine Schiessverlegung ist Einsiedeln ein idealer Ort, weil es nirgendwo sonst in unserem kleinen Land so viele Beizen, Kneipen und Bars pro Hektar gibt! Kaum stolpert man aus der einen Wirtshaustür raus, taumelt man zu einer anderen schon wieder hinein. Und nochmals ein Bier! Und nochmals ein Halbeli! Wenn man sich also fürs Saufen, Güllern und Kübeln interessiert, dann ist man in Einsiedeln an der richtigen Adresse. Sonst weiss ich sehr wenig über den Ort – nur noch dies: Lee «Scratch» Perry wohnt auch in Einsiedeln, dieser jamaikanische Reggae-Pionier, «Godfather of Dub», eine lebende Legende, seit tausend Jahren dauerbekifft und gut drauf. Den zu treffen könnte sich für Sie lohnen, in der Pitsch-Bar oder sonst wo. Das könnte ein lustiges Gespräch werden: Alice Weidel trifft Lee «Scratch» Perry und raucht braunen Afghan!
Ach ja, apropos Farben und Formen, damit Sie nicht enttäuscht sind: Die zwei Vögel im Wappen von Einsiedeln, die ihre schwarzen Schwingen auf rotem Grund ausbreiten, das sind im Fall zwei Raben, keine Reichsadler. Dafür aber könnte Ihnen die Geschichte der beiden Wappentiere gefallen. Wo heute das Kloster steht mit dem ganzen Drumherum, war früher Wildnis, dunkler, finstrer Wald. Dort hauste als Einsiedler der heilige Meinrad. Im Jahre 861 wurde der heilige Meinrad von zwei übers Land streichenden Landstreichern überfallen, ausgeraubt und mit einer Keule erschlagen. Der eine Täter war ein raufsüchtiger Räter namens Peter, der andere ein asozialer Alamanne namens Richard. Das Vagabundenduo flüchtete gen Zürich. Jedoch wurde es verfolgt von zwei von Meinrad domestizierten Raben. Wie Überwachungsdrohnen folgten sie den Totschlägern bis nach Zürich, wo die bald in einer Beiz an der Schifflände * einkehrten und zechten. Da flogen die Raben durch das Fenster ins Wirtshaus und machten mit wildem Krakeelen auf die beiden aufmerksam. Das üble Duo wurde gefasst, da Meinrads zahme Vögel weitherum bekannt waren. Und natürlich gab es damals noch nicht Kuscheljustiz wie heute, sondern: Rübe ab, einmal, zweimal, ruck, zuck, wunderbar. Obwohl, das stimmt gar nicht. Der Räter und der Alamanne wurden nicht geköpft: Es ging auf den Scheiterhaufen. Die zwei wurden bei lebendigem Leib verbrannt, nachdem man sie zuvor tüchtig gerädert hatte. Das Rädern war eine damals schwer angesagte Mode im Strafvollzug: Die zu bestrafenden Subjekte wurden auf ein Wagenrad «geflochten». Damit dies möglich war, man die Glieder durch die Speichen des Rades «flechten» konnte, musste man den zu bestrafenden Subjekten in einem vorgängigen Schritt jedoch erst die Knochen brechen, was man tat, einen um den anderen. Und die Raben lachten!
Man kann das Lachen der beiden Raben heute noch hören, wenn man die Ohren spitzt und der Wind aus Norden weht, kalt und steif: «Krah! Krah! Krah!», rufen sie. «Krah! Krah! Krah!»
Max Küng
Song zur Kolumne: «Alice» von Sunn O))) vom Album «Monoliths & Dimensions», 2009.
* Das Wirtshaus an der Schifflände 5 im «Rabenhaus» existiert heute noch, jedoch als libanesisches Restaurant, nebst vielen im Hause ansässigen Advokaten.