LETZTES JAHR IN MÖMPELGARD
Der Hochgeschwindigkeitszug hielt auf seinem Weg nach Paris an einem Ort, von dem ich noch nie gehört hatte. «Belfort-Montbéliard TGV» stand auf dem blauen Bahnhofsschild. Nun war mir Belfort vage ein Begriff, denn dort wurde der Schauspieler Tahar Rahim geboren, der den französischen Serienmörder und Dieb Hatchand Bhaonani Gurumukh Charles Sobhraj in der Netflix-Serie «Die Schlange» verkörperte. Montbéliard aber sagte mir absolut rein gar nichts. Also machte ich mich schlau. Der Blick aus dem Zugfenster liess kaum Rückschlüsse zu. Ich sah bloss einen TGV-Bahnhof, der aussah wie ein TGV-Bahnhof: Eine triste Idee von so etwas wie Zukunft, gebaut in einer Zeit, als man noch an sie geglaubt hatte, zwischen Ballungszentren in die Niemandslandschaft hingepflanzt. Also ging ich ins Internet, denn der TGV bot gratis WLAN an, welches sogar funktionierte.
Ich erfuhr: Montbéliard liegt zwischen den Vogesen und dem Jura in einer Landschaft, die als «Burgundische Pforte» bekannt ist. Die Stadt besitzt ziemlich genau die Grösse von Frauenfeld (25’816 Einwohner). Kein Wunder also, hat man noch nie von ihr gehört. Ich nehme an, wenn eine Französin oder ein Franzose mit dem Zug in Frauenfeld zu stehen kommt, dann denkt er oder sie auch: «Où diable ai-je atterri ici? Qu’est-ce que ça veut dire: ‹Frauenfeld›? Et pourquoi ça sent si bizarre ici? Est-ce le parfum ‹Betterave› de Thierry Mugler?» – und ist dann froh, wenn der Zug sich wieder in Bewegung setzt.
Während wir in Montbéliard standen und mehr Leute ein-als ausstiegen, fand ich des Weiteren heraus, dass dort der Fussballer Pierre-Alain Frau geboren wurde, dessen Frau Roxellane Frau heisst, und der vor dreizehn Jahren kurz in den internationalen Medien war, als er nach dem Sieg seiner damaligen Mannschaft Lille OSC (Spitzname «Les Dogues», die Mastiffs) gegen den FC Lorient (Spitzname «Les Merlus», die Seehechte) von falschen Polizisten angehalten und in den Kofferraum seines Mercedes gesperrt wurde. Sie raubten ihn aus, er erlitt jedoch glücklicherweise keine Verletzungen. Und ich sah, dass das Wappen von Montbéliard eine frappante Ähnlichkeit mit dem Logo des Sportwagenherstellers Porsche aufweist – in beiden Wappen finden sich stilisierte Geweihstangen auf gelbem Grund. Nicht ohne Grund, denn bis zur Französischen Revolution gehörte Montbéliard zum Territorium des Hauses Württemberg, einem Hochadelsgeschlecht. Deswegen besitzt Montbéliard auch noch einen deutschen Namen: Mömpelgard. Es ist jedoch anzunehmen, dass dieser Name heute nur selten Verwendung findet, auch wenn er sehr schön auszusprechen ist. («Où habitestu?» – «À Mömpelgard.»)
Die Region Montbéliard ist berühmt für eine geräucherte Schweinswurst mit Kümmel, die über einen eigenen Wikipedia-Eintrag verfügt (wenn auch bloss auf Französisch). Von dieser Wurst aus Montbéliard werden pro Minute 64 Stück gegessen. Das sind 3840 Würste pro Stunde. 92’160 Exemplare Tag für Tag. Im Jahr 34 Millionen dieser Dinger. Ein rechter Haufen Würste, wenn man sich das bildlich vorstellt.
Dann setzte sich der Zug wieder in Bewegung, wurde schnell schneller, wir liessen Montbéliard hinter uns, die Burgundische Pforte flog vorbei, der train à grand vitesse wurde seinem Namen wieder gerecht. In gut zwei Stunden führen wir im Gare de Lyon ein, und kurz darauf sässe ich in der Brasserie Piège à Touristes, studierte die Menükarte und würde den wie eine Zuckerrübe süsslich grinsenden Kellner in meinem besten Französisch fragen: «Avez-vous la saucisse de Mömpelgard?»