KRIEG UND FERIEN
Grundsätzlich halte ich mich von den Kommentaren fern, die unten an den Online-Artikeln hängen, dort ihre Eigenleben entwickeln und einen in das nicht selten gehässige Denken von ganz und gar Fremden hineinscrollen lassen. So wie ich mich auch von Twitter fernhalte oder von Facebook – und auch nicht spätnachts in irgendeine mir unbekannte Spelunke im Kleinbasel reinschneie, mich am Stammtisch auf die Sitzbank fläze und in die Runde frage: «Und? Was läuft? Was geht ab? Ist das nicht geil, dass der FCZ Meister wird?» Denn man liest oder hört im Alltag schon genug Dinge, die man eigentlich nicht hören oder lesen möchte. An Meinungen herrscht wahrlich kein Mangel.
Doch per Zufall stolperte ich über einen dieser Onlinekommentare, der mich nach dem Lesen seltsam berührte – und nachdenklich stimmte. Im Artikel, auf welchen sich der Kommentarschreiber bezog, ging es um Ferienreisen, genauer um neue Flugdestinationen einer helvetischen Airline und um die Aufstockung der Angebote der Reiseanbieter. Denn so traurig die Weltlage, so furchteinflössend und grausam der Krieg, so nahe die Bilder auch gehen, die uns erreichen: Die meisten von uns werden trotzdem Ferien machen in diesem Frühling, spätestens im Sommer, vielleicht sogar irgendwo ausserhalb der Landesgrenzen, nun, da man endlich wieder mit weniger Restriktionen verreisen kann und sogar ohne Maske im Zug zum Flughafen fahren darf – wenigstens bis auf weiteres, eventuell sogar bis zum Herbst, wenn alles wieder von vorne beginnen wird.
Wir werden also in Flugzeuge steigen und Kreuzfahrtschiffe entern, uns am Strand auf Liegestühle niederstrecken oder die Ruinen Roms bestaunen – und auf Instagram ein paar geil gefilterte Bilder posten, damit die Daheimgebliebenen mit vor Neid zu-sammengepressten Lippen klönen: «Die habens gut!» Denn die Welt besteht aus vielen Universen.
Nun, ein gewisser Herr Schweizer schrieb folgenden Kommentar zu jenem Artikel über die neuen Flugdestinationen (Pisa; Nantes; Bologna): «Das mit Abstand beste Land für Ferien ist Brasilien. Dort lebt man mit wenig Geld wie im Paradies, das beste und üppigste Essen plus unglaublich festfreudige, aufgestellte Menschen und immer gutes und warmes Wetter. Keine komplizierten Sachen wie in Thailand, Italien oder anderen Ländern.» Worauf ein Herr Müller ebenfalls einen Kommentar schrieb und fragte: «Wie ist es mit der Kriminalität? Kollegen berichteten, dass es gefährlich sei dort.» Und auch eine Frau Timm klinkte sich in die Diskussion ein und meinte: «Sorry, Hawaii ist besser. Der Aloha State. Live aloha. Aloha feeling. Drive with aloha. Rainbow State.»
Herr Müller bekam von Herrn Schweizer keine Antwort, ob die Berichte der Kollegen zutreffen. Vielleicht war Herr Schweizer schon nicht mehr am Heimcomputer, sondern hat den Koffer gepackt, ist aus dem Haus gegangen, hat sich auf den Weg zum Flughafen gemacht, um dort ein Düsenflugzeug mit Destination Brasilien zu erwischen, einen Jet, der ihn nonstop ins Paradies bringt, das unkompliziert ist und günstig, voll festfreudiger Menschen. Ferien eben. Auch dieses Jahr.
Vielleicht liegt das Paradies tatsächlich in Brasilien, fernab des Komplizierten, ich weiss es nicht. Und ich werde es dieses Jahr auch nicht herausfinden. Was ich hingegen weiss: In Onlinekommentaren ist das Paradies nicht zu finden, dafür aber so etwas wie die Wirklichkeit, wenigstens eine von vielen.