Arrivage Massif
Man tut eine Reise und kehrt zurück nach Hause, nicht selten mit Erinnerungen, manchmal sogar mit solchen guter Natur. Nur ist es so, dass Erinnerungen flüchtige Viecher sind: Im Nu sind sie verschwunden, und es bleibt noch nicht einmal die Erinnerung an die Erinnerung. Deshalb brauchen wir ein Material, an das wir sie binden können, ein Medium: das Souvenir. Das geplättete Blatt einer Kastanie für den Gang durch das Bergell; der geklaute Bakelitaschenbecher für den Abend im Café Loos in Rotterdam; und der Schlüsselanhänger in Form des Eiffelturms erinnert mich noch heute daran, wie ich mit einer Magen-Darm-Grippe in einem verwanzten Hotel an der Rue du Faubourg-Poissonnière lag, eine Woche lang, ächzend, einst.
Wieder war ich in Frankreich, aber nicht in einer grossen Stadt, sondern auf dem Land, wo es nichts gab, das man hätte mit nach Hause bringen können, ausser ein paar Fotos einer recht romantischen Landschaft unter einem grauen Herbsthimmel – unhörbar auf den stillen Bildern das infernalische Dröhnen der Tiefflug übenden Mirage-Kampfjets der französischen Luftwaffe.
Bis ich den Supermarkt betrat. Schon beim Eingang verkündeten grosse gelbe Schilder Grosses. ARRIVAGE MASSIF DE POMME DE TERRE BINTJE – LE SAC DE 25 KG». Und im Laden drin dann, als habe man Schützengräben erbaut, Sack auf Sack, alle voller dicker ungewaschener Kartoffeln, ein ganzes Labyrinth. Ich musste einen solchen Sack haben. Also hievte ich ihn – nicht ohne Anstrengung – in den Einkaufswagen, rollte den zur Kasse und zahlte. Normalerweise kaufe ich Kartoffeln einzeln auf dem Markt. Noch nie in meinem Leben erstand ich 25 Kilogramm von irgendetwas aufs Mal. Die Frau an der Kasse sagte dann, sie hätte gern 4 Euro und 79 Cent von mir.
So viel kosten 25 Kilo Kartoffeln in einem Supermarkt in Frankreich: 4 Euro und 79 Cent.
Das stimmte mich nachdenklich. 25 Kilo für 4 Euro und 79 Cent.
Ich dachte, ich könnte mir einen Bart wachsen lassen, ein Übergwändli kaufen, Helly-Hansen-Faserpelzunterhosen montieren, eine Villiger Krumme ins Maul stopfen und mit dreckigen Gummistiefeln an den Füssen die Kartoffeln dann auf dem Markt in Basel, Bern oder Zürich verkaufen. Ich könnte sie zu «Bergkartoffeln aus dem Abulatal» umdeklarieren. Dafür löst man nämlich pro Kilo gut und gern 12 Franken. Kaufte ich im Supermarkt in Frankreich vier Säcke zu 25 Kilo, dann ergäbe das bei einem Investment von gerade 20 Franken einen Strassenpreis von satten 1200 Franken. Bei dieser Marge würde jeder Drogenhändler vor Neid bleich wie Streckmittel.
Die Kartoffeln übrigens stammen aus Frankreich, so gerade noch wenigstens, denn als Produzent steht auf einem Etikett der Name Bateman SARL, ansässig in 59190 Hazebrouck. Nun klingt der Name Hazebrouck natürlich so, als würde jemand schwer betrunken schwafelnd von seiner Lieblingskolumnistin Hazel Brugger schwärmen («… Hazebrouck-ischm-Fall-vill-bessr-asss-dr-Chnnng …»), in Tat und Wahrheit handelt es sich jedoch um eine Kleinstadt an der belgischen Grenze. Ein Ort im Arrondissement Dunkerque mit Geschichte, denn Hazebrouck war während des Ersten Weltkriegs ein wichtiger Nachschubposten der Alliierten, weswegen im Jahr 1918 sich eine deutsche Frühjahrsoffensive gegen Hazebrouck richtete, mit Hunderttausenden von Toten – allerdings ohne Erfolg. Früher also ein Nachschubposten für die Alliierten, heute ein Nachschubposten für Supermärkte, um dort Bintjesack-Stellungen zu errichten mit hunderttausend Knollen zu Kampfpreisen. 25 Kilo für 4 Euro und 79 Cent. Noch lange nachdem die letzte Kartoffel des Sackes, zu langen Pommes frites geschnitzt, im siedenden Öl der Friteuse ihr heisses Ende findet, werde ich daran denken müssen, an diese Zahlen, die mehr über Europa erzählen als ein Schlüsselanhänger in Form des Eiffelturms: 25 Kilo für 4. 79 Euro.