• Dezember 2023

KLEINE SCHWANZGELDJÄGER

Es ist eine beliebte Frage in Interviews: «Wie haben Sie Ihr erstes Geld verdient?» Vor allem monetär Ultrapotente werden danach gefragt. Und sie erinnern sich gerne. Jeff Bezos postete auf X-formerly-knownas-Twitter ein Bild von sich, wie er bei McDonald’s einen Hamburger isst, dazu schrieb er: «My first job. And still the same great burger.» Denn sein erstes Geld verdiente der aktuell drittreichste Mensch (156,2 Milliarden Dollar) als Teenager beim Fast-Food-Konzern. Es sind kleine Geschichten, die gut ankommen, ganz im Sinne von: Seht her, wir Superjachten sammelnden Superreichen optimieren nicht nur Steuern und beuten Angestellte aus, sondern sind im Kern menschlich und haben so angefangen, wie die meisten noch immer sind: klein.

Netflix-Mitbegründer Reed Hastings (knapp 5 Milliarden Dollar) soll sein erstes Geld damit verdient haben, als Staubsaugerverkäufer von Haus zu Haus zu ziehen. Als ich dies las, kam mir ein dunkler Moment meiner Kindheit in den Sinn. Ich verdiente mein erstes Geld allerdings nicht mit Staubsaugern, sondern mit Mäuseschwänzen. Mit dem Töffli fuhr man über die Felder und stellte Fallen, später erntete man sie, trennte mit einer rostigen Schere die dürren Schwänze von den Leibern, es machte leise «knacks!». Auf der Gemeindeverwaltung gab es für jeden Schwanz 50 Rappen. Da kam für uns kleine Schwanzgeldjäger schnell ein rechter Batzen zusammen!

Aber nicht diese Episode kam mir in den Sinn – und auch nicht jene, als ich die Kontrolle der Mausefallen etwas schleifen liess und einen halb verwesten Nager aus dem Loch zog. Was für ein Anblick! Was für ein Geruch! Aber 50 Rappen waren 50 Rappen: «knacks!» Nein, mir kam in den Sinn, wie wir im Klassenverbund gemeinnützige Arbeit leisteten; wie Staubsauger-Hastings zogen wir von Tür zu Tür, um Schokoladentaler zu verkaufen. Die präsentierten wir in einem Bauchladen aus Karton: in Goldfolie verpackte Schokoladentaler, deren Verkaufserlös schützenswerten Auenwäldern und Sumpfbiotopen in der Bolle von Magadino zugutekam. Nur Unmenschen schlossen die Haustüre wieder, ohne uns herzigen Schulkindern einen dieser Taler abgekauft zu haben. Ein cleveres Geschäftsmodell. Leider starteten wir eines Tages unsere Tour im Neubauquartier, welches die Alteingesessenen im Dorf bloss «Ghetto» nannten. Ein Haus dort hatte eine moderne Regentraufe, die sich in einen Brunnenteich ergoss, der recht tief und voller Lebewesen war. Ich weiss nicht mehr, ob ein Frosch, ein Schwanzlurch oder ein Gelbrandkäfer meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Vielleicht einfach auch nur das Wasser selbst, denn in einem einzigen Wassertropfen existiert ja ein ganzes Universum, da tummeln sich Blumenkohlamöben, blaue Trompetentiere und Würstchengrünalgen.

Jedenfalls bückte ich mich, blickte in die faszinierende Tiefe – und vergass, dass ich den vollen Bauchladen vor meinem feissen Bubenranzen hängen hatte… schon hörte ich, wie zwei Dutzend in Goldfolie verpackte Schokoladentaler ins Wasser fielen, rieselten, prasselten. Eine kurze Kaskade, ein schnelles Geräusch, welches ich fortan niemals wieder vergessen konnte (so wie andere Geräusche, etwa die «Musik», als ich einmal mit Schwung in eine Tiefgarage fuhr – mit dem neuen Rennvelo auf dem Autodach).

Der Goldschatz wurde wieder gehoben. Die Bergung war mühsam, und ich wusste nicht, ob mein T-Shirt des Brunnens oder meiner Tränen wegen klatschnass war. Mit dem Dörrex versuchte ich daheim, die Schoggitaler zu trocknen. Es kam nicht gut. Und es wundert mich nicht, bin ich bis heute nicht Milliardär geworden.