Kevin Morby
22 Lieder gegen den Winter
Einen Zettel fand ich in der Gesässtasche einer alten Jeans. Auf dem Zettel stand in einer Schrift, die aussah, als hätte das jemand schnell schnell in einem abstürzenden Flugzeug geschrieben mit scheinbar kranker Kralle: „Mein neues Velo ist eine Mischung aus einem Menü Surprise in einem Gourmetrestaurant und einer Moschee: Es hat 22 Gänge und keine Glocke“. Die Handschrift kam mit bekannt vor und der Satz auch, aber das war wenig überraschend: Ich hatte ihn selbst geschrieben, vor ein paar Jahren wohl schon. Ich dachte: Es ist zwar nur ein Satz, aber aus diesem Satz könnte eine ganze Kolumne entstehen, so wie aus einem kleinen Samen ein Baum heranwächst, oder vielleicht sogar ein Buch mit tausend Seiten oder dicker gar noch: 22 Bände? Aber dann kam mir in den Sinn, dass ich den Satz bereits einmal in einer Kolumne verwendet hatte - und mit der Mehrmalsverwendung von Ideen verhält es sich natürlich ähnlich wie beim Toilettenpapier. Also zerknüllte ich den Zettel und warf ihn in mein persönliches Literaturarchiv: Den Papierkorb.
Es ist mein persönlicher Ergeiz, von meinem Schreibtisch in den Papierkorb zu treffen, der etwa vier Meter davon entfernt steht. Gelingt es nicht, so werfe ich erneut. Nach dem zweiundzwanzigsten Versuch dachte ich, ich könnte eine Kolumne über Kevin Morby schreiben. Morby ist Musiker. Er hat den Bass bei einer Band namens Woods bedient, im letzten Jahr aber sein Solodebüt herausgebracht und kürzlich kam sein Zweitling „Still Life“ auf den Markt - eine wahnsinnig gute Platte, wie ich finde, ich höre sie jeden Tag und manchmal läuft sie auch nachts, wenn ich schlafe. Aber dann traf ich den Eimer und dachte: Musik, wer interessiert sich schon noch für Musik? Musik ist so last season.
Und deshalb geht es in dieser Kolumne nicht um Kevin Morby und seine wahnsinnig gute Platte, es geht nicht um den Satz mit dem Velo und der Moschee respektive dem Menü Surprise, sondern es geht um einen Mann um die 50. Der Mann betrat ein Café.
Ich sah es, weil ich gerade vorbei ging und es fiel mir auf, weil er das Café rückwärts betrat. Die Türe drückte er mit seinem Hintern auf, denn in den Händen hielt er einen Topf. Im Topf war ein Bäumchen, getragen war es gleich gross wie der Mann. Es war ein kleiner Buchsbaum, kugelrund, mit dünnem Stamm. Durch das Fenster des Café sah ich, wie der Mann den Topf mit dem Bäumchen auf den Tisch stellte, sich setzte und etwas bestellte. Dann schien mir, der Mann spreche mit dem Bäumchen. Kurz darauf kam die Kellnerin mit einem Café, stellte die dampfende Tasse vor dem Mann auf den Tisch. Der Baum bekam nichts.
Als ich eine Stunde später wieder am Café vorbei ging, da sass der Mann noch immer da und das Bäumchen stand noch immer auf dem Tisch. Ich bliebt stehen und überlegte, auch ins Café zu gehen, mich an einen Tisch zu setzen und über den Rand einer Zeitung herauszuspionieren, was es mit dem Bäumchen auf sich hatte - ob der kleine Baum vielleicht der grosse Freund des Mannes war. Ich dachte: Ein Baum ist sicher nicht der schlechteste Freund für einen Mann. Aber ich war in Eile und ging weiter.