IM STREICHELKONZERT
Ich war müde von einem dieser harten Arbeitstage, wurde aber abends ins Konzert geschleppt, Gustav Mahler, die 7. Sinfonie, ein Werk, welches nicht grundlos eher selten aufgeführt wird, steht es doch arg im Schattenwurf der ausdrucksstarken 6. und 8. Sinfonie. Dies hatte ich wenigstens so gelesen, denn ich selbst habe von klassischer Musik keinen blassen Schimmer. Natürlich kann man gegen klassische Musik nichts sagen, ohne als absoluter Kulturbanause dazustehen. Und ich würde es auch niemals öffentlich zugeben, dass ich keine Ahnung habe, Gustav Mahler mich langweilt und Konzerte mich zuweilen regelrecht quälen. Niemals wäre ich so dumm, dies öffentlich zu äussern. Das wäre schön blöd! Nein. Solche Dinge behalte ich lieber für mich.
Aber eben: Ich sass im Parkett, das Orchester arbeitete sich durch die Partitur, und die Zeit verging immer langsamer und langsamer. Eine Weile lang dachte ich über die Zeit nach, wie unterschiedlich sie empfunden werden kann. Aber irgendwann wusste ich nicht mehr, was ich denken sollte. Da hatte ich die grandiose Idee, die Musikerinnen und Musiker auf der Bühne zu zählen. Ich zählte vier Flöten, zählte drei Oboen, zählte vier Hörner und drei Trompeten und drei Posaunen. Danach kam ich zur komplexen und im Reigen der Musik wie Schilf im Wind hin und her wogenden Streichersektion und musste erkennen, dass die Idee verheerend war. Es war so, als würde man beim Einschlafen Schafe zählen. Und tatsächlich nickte ich dann auch ein, die Lider fielen zu, das Kinn sank gen Brust, doch nur kurz, denn zum Glück kam gerade der donnerhafte Einsatz der Kesselpauken, der wie ein akustischer Defibrillator mich wieder zurück ins Reich der Wachen holte. Und ich verfluchte mich, hatte ich vergessen, Reissnägel mitzunehmen, die ich mir hätte unters Gesäss schieben können: ein probates Mittel, damit man nicht einschläft.
Ich behalf mich damit, mich selbst zu kneifen. Kniff mich links. Kniff mich rechts. Kniff mir sogar ins Kinn, was gut geht, denn eine Hand am Kinn sieht immer nach höchster Konzentration aus, und als eine Träne über meine Wange kullerte, musste man es als Ausdruck der absoluten Ergriffenheit betrachten, dabei hatte ich es mit dem Kneifen wohl einfach etwas übertrieben. Doch ich musste wach bleiben!
Gerne hätte ich mich selbst geohrfeigt, aber ich getraute mich nicht. In einem klassischen Konzert ist man ja doch eher etwas gehemmt. Und ich dachte, wie super doch die Punkmusik ist, da dauern Stücke kaum länger als zwei Minuten. Oder Speed Metal. Das Stück «You Suffer» von Napalm Death etwa dauert nur eine Sekunde und 316 Tausendstel. So steht es im «Guinnessbuch der Rekorde». Aber im klassischen Konzert verliert man jegliches Zeitgefühl. Und der ausgeliehene Anzug war mir derart zu gross und die Ärmel zu lang, dass ich meine Arme so strecken konnte, wie ich wollte, meine Armbanduhr kam nicht zum Vorschein. Auch dann nicht, als meine Finger bereits beim Knie meiner Sitznachbarin angelangt waren.
Mahlers 7. Sinfonie ist auch dafür bekannt, dass der Komponist sonst eher selten im Einsatz stehende Instrumente verwendet, die Mandoline etwa, die Gitarre oder die gute alte Kuhglocke. Und dann hörte ich an einer ruhigen Stelle im 4. Satz einen Klang, der mir irgendwie vertraut vorkam. Ein Grollen. Ein Rumoren. Ein unheimlicher Klang war es, der immer lauter wurde. Erst als sich die Leute in meine Richtung wandten, begriff ich, es war das Knurren meines Magens. Und ich merkte mir: Niemals hungrig in ein Konzert. Und: Reissnägel nicht vergessen!