• Oktober 2021

ICH WAR SCHON X-MAL IN Hausen am Albis ZH

Hausen am Albis ist der Wendepunkt meiner klassischen Sechzig-Kilometer-Rennvelo-Sonntagmorgenrunde durchs Säuliamt – und immer auch ein Ort der Entscheidung: Fährt man den steilen Vollenweid-Stutz hoch und wird mit Laktat in den Beinen und Weitsicht belohnt, oder nimmt man die topografisch mildere Albisstrasse gen Türlersee? Ich könnte aus Rifferswil kommend auch rechts abbiegen, Richtung Ebertswil fahren, dann runter nach Sihlbrugg und durch das dröge Sihltal heimkurbeln. Oder dann auf den Hirzelrücken klettern. Die Möglichkeiten sind endlos. An jenem Sonntagmorgen sah ich in Hausen vor dem inneren Auge schon das Rührei, das ich meinem Sohn versprochen hatte, mit krossem Speck, also bog ich links ab, so wie meist, und fuhr via Albisstrasse, trat kräftig in die Pedale.

Zu Hause kam ich zufrieden grinsend an, sechzig schöne Kilometer in den Knochen und noch mehr Zahlen auf dem Strava-Konto. Ich dachte noch: Es gibt kein schöneres Hobby. Und der Sonntag nahm seinen Lauf, im Fernsehen kam später ein episches Velorennen (Paris-Roubaix, 257,7 km), welches ich auf dem Küchen-TV schaute, während ich das Abendessen vorbereitete und schon mal den Wein probierte. Ich war sehr zufrieden mit dem Wochenende und meinem Leben. Ja, ich war glücklich.

Einen Tag später las ich die Headline auf einem der Newsportale. «Auto knallt bei Überholmanöver in Velo – 26-Jähriger tot» Ein ungutes Gefühl beschlich mich. Ich las weiter. «Gegen 17.30 Uhr fuhr ein 43-jähriger Autofahrer auf der Ebertswilerstrasse von Hausen am Albis Richtung Ebertswil ZH. Auf der Überlandstrecke schwenkte der Fahrer zum Überholen eines vor ihm fahrenden Fahrzeugs auf die Gegenfahrbahn aus. Dabei kam es zur Frontalkollision mit einem entgegenkommenden Velofahrer. Der 26-jährige Zweiradlenker wurde dabei schwer verletzt. Trotz Reanimationsmassnahmen durch die Polizeipatrouille und den Rettungsdienst erlag der Velofahrer seinen schweren Verletzungen noch auf der Unfallstelle.»

Es war am Sonntag geschehen. Unweit von dort, wo ich links abbog. Ich kenne die Strasse, bin sie selber schon oft gefahren. Sie ist eben und gerade und schmal und ohne Velostreifen, aber trotzdem: Wie kann ein solcher Unfall geschehen? Traurigkeit überkam mich. Und Erinnerung. Auf der Seestrasse, noch nicht lange her, als ein BMW-SUV mit geistesgestört hochgedrehtem Motor einen anderen überholte. Dort aber gab es einen Velostreifen und einen ausgestreckten Zeigefinger meinerseits, und in Horgen hatte ich es bereits wieder vergessen. Wer viel mit dem Velo unterwegs ist, ist mit solchen Situationen leider hinlänglich vertraut. Autofahrer*innen mit den Augen auf dem Handy und dem Fuss schwer auf dem Gaspedal; zu nahe Überholmanöver; Aggression und Feindseligkeit; dann diese abartige SUV-Aufrüstung, die Autos mehr Monster als Maschinen.

Ich schlief schlecht in jener Nacht. Tags darauf schrieb ich der Medienstelle der Polizei, ich wollte mehr erfahren. Aber es gab keine zusätzlichen Informationen. «Zum genannten Verkehrsunfall gibt es keine weiteren Details, die wir kommunizieren können», schrieb die Polizei. Ich hakte nach. War es ein Rennvelofahrer? Was für ein Auto fuhr der Unfallverursacher? «Beide Punkte haben im Ermittlungsverfahren eine Relevanz und können daher nicht kommuniziert werden», hiess es.

Am letzten Sonntag stieg ich wieder auf das Rennvelo und fuhr meine gewohnte Morgenrunde durchs Säuliamt. In Hausen aber bog ich rechts ab, Richtung Ebertswil. Ich wollte mir die Stelle ansehen, wo der Unfall geschehen war. Um zu begreifen, was nicht zu begreifen ist. Vor Ort deutete nichts auf den schrecklichen Unfall hin, der eine Woche zuvor geschehen war. Greifvögel kreisten über den Feldern. Die Bauern waren am Mais häckseln. Die Sonne beschien eine friedliche Herbstlandschaft, der Himmel wie von einem flämischen Meister gemalt: ein Idyll.

Dann sah ich einen Blumenstrauss am Strassenrand. Inmitten von Resten einer Sprühmarkierung. Hier musste es geschehen sein. Nicht weit ausserhalb des Dorfausgangs. Weshalb will hier einer überholen? Eine Weile stand ich dort und begriff nichts. Dann stieg ich wieder aufs Velo und verliess den Ort.

Manche fahren los und suchen das Glück. Andere bringen das Leid. Warum?