• November 2021

ICH WAR NOCH NIEMALS IN Zermatt VS

Woher ich käme, wollte die Touristenfamilie aus Korea in der Gornergratbahn wissen, als wir in Zermatt losgefahren waren. Aus der Schweiz, sagte ich wahrheitsgemäss. Oh, meinte die Tochter, dann hätte ich diesen berühmten Berg wohl schon oft gesehen. Ich verneinte, denn ich kannte ihn bis anhin bloss von der Toblerone-Packung. Sie blickten ungläubig, doch als ich mich erklären wollte, ging plötzlich ein «Ah» und «Oh» durch den Waggon. Die Leute sprangen von ihren Sitzen auf, um besser zu sehen, Handys wurden gezückt, vereinzelt gar altmodische Fotoapparate. Da war es nun, klar und deutlich auf blauem Hintergrund: das Matterhorn.

Normalerweise neigt der Mensch dazu, sich Dinge grösser vorzustellen, als sie in Tat und Wahrheit sind. Beim Matterhorn ist dies nicht der Fall. Das Ding ist gross! Und mächtig. Die Höhe eines Berges ist das eine, das andere ist der Kontext. Dabei sprechen Fachleute von «Prominenz» und «Dominanz». Es gibt viele mathematische Formeln, um diese Dinge zu berechnen. Klar ist: Das Matterhorn muss sich das Erinnerungsfoto nicht gross mit anderen teilen.

Zur Mittagszeit auf dem Gornergrat angekommen hatten wir einen grossartigen Blick auf das Horu, wie die Einheimischen zu sagen pflegen in ihrer ureigenen Eingeborenensprache, aber auch Hunger. Doch: Zwischensaison! Ein Gesicht wie eine Lötschentalmaske machte ein Basler Tagestourist, der an der verrammelten Türe des Bergrestaurants rüttelte. Pikiert rief der um sein Raclette Gebrachte: «Hafechääs!» Alles war verschlossen, auch der Souvenirshop und sogar die Türe zur Kapelle Bernhard von Aosta – bloss die Toilette war geöffnet, immerhin, und natürlich der Himmel, in den das Matterhorn aufragte. Der Hunger fuhr zurück nach Zermatt, wo ziemlich Betrieb herrschte in der Bahnhofstrasse. Was auffiel: Sie ist nobel, sie ist mondän. Alle grossen Luxusuhrenhersteller sind mit Shops vertreten, und der Dorfmetzger präsentiert im Schaufenster nicht banale Würste, sondern Weinflaschen der noblen Sorte (Ornellaia) und natürlich Beluga-Kaviar in praktischen Blechdosen.

Es scheint den Leuten gut zu gehen hier oben. Und trotzdem (oder gerade deshalb?) gibt es Zoff, immer wieder; zurzeit bekanntlich wegen eines Restaurants namens Walliserkanne, welches an bester Lage an der Bahnhofstrasse zu finden ist, gleich neben dem Uhrenladen von Omega, wo mit dem neuen James Bond geworben wird (Kei Ziit zum Verräcku). Zwar wurden in der Nacht die Betonblöcke entfernt, mit denen der Eingang des Restaurants versperrt worden war, doch der Ort wirkte wie der eines schrecklichen Anschlags: Kerzen in Herzform waren vor dem Eingang drapiert. Blumen niedergelegt. Die «Freiheitstrychler» hatten ihre Visitenkarten stapelweise hinterlegt und an der Fensterscheibe klebten Abziehbilder von Thurgauer Widerstandswichten. Die Türe: Amtlich versiegelt.

Nachdem die Wut-Wirte in einem Handgemenge festgenommen worden waren, äusserte sich ein bekannter Hotelier (er plant mit der Marriott-Gruppe einen Neubau am Sonnenhang Zer Bänne mit Sicht aufs Matterhorn für über 200 Millionen). Auf die Frage, ob wegen der Wild-West-Szenen und der zum Corona-Massnahmen-Gegner-Pop-up-Wallfahrtsort mutierten Walliserkanne die Destination Zermatt nicht einen Imageschaden erleide, meinte: Nein. Ganz und gar nicht. Denn: «Am Ende ist auch eine negative Schlagzeile Werbung für unser Dorf.»

Das zeugt von gesundem Selbstbewusstsein. Prominenz und Dominanz sind ja nicht nur Attribute für Berge. Und wer das Matterhorn im Rücken weiss, die oder der muss sich in der Tat keine Sorgen machen um so etwas wie Zukunft. Dieser Berg wird, egal wie blöd man tut, mit seiner Lockkraft immer Touristen anziehen und deren Geld fliessen lassen, fröhlich gurgelnd wie ein Bergbach im steilen Gelände.

Bald übrigens wird uns ein vertiefter Einblick in die schrundige Walliserseele ermöglicht. Die Serie «Tschugger» von und mit David Constatin läuft ab dem 28. November auf SRF sowie Sky und berichtet vom Alltag des Walliser Kantonspolizisten Bax. Ich durfte die ersten beiden Folgen von «Tschugger» sehen und kann sagen: Etwas Lustigeres wird es im Schweizer Fernsehen dieses Jahr nicht geben. Und das Wallis, es scheint wohl noch wilder zu sein, als ich es mir als zahmer Städter vorzustellen imstande war.