• April 2021

ICH WAR NOCH NIEMALS IN… wo zur Hölle bin ich denn hier gelandet?

Der Velofahrer Marc Hirschi sagte unlängst in einem Interview, er habe sich nach Reisen gesehnt, als er noch KV-Angestellter gewesen sei. Nun als Radprofi und Sportzirkusnomade würde er «am liebsten zu Hause bleiben». So ist er, der Mensch: Will immer das, was er nicht hat. Und umgekehrt. Unklar jedoch, ob die Hoffnung einen in die Ferne lockt, dort etwas zu finden, was man sich ersehnt. Oder ob der Leidensdruck ob der Ödnis des Alltags einen zu Echappements drängt.

Ein Freund von mir hasst das Reisen. Er meint: «Man kommt als genau derselbe Mensch zurück, der man war, bevor man losfuhr – bloss müder.» Und die Frage sei erlaubt, ob das Reisen nicht Selbstbetrug ist. Sucht man nicht bloss die Dinge, die man von Bildern oder dem Hörensagen her schon kennt, die man zu sehen erwartet und auf der To-see-Liste abhakt, indem man sie knipst, ein weiteres Foto zu den 5786 bereits auf der Speicherkarte dösenden Bildern hinzufügt?

Ich war nie ein Globetrottel, unternahm aber doch die eine oder andere Reise. Und ich erinnere mich an ein paar Dinge: die Schlaglöcher in den Strassen Jekaterinburgs etwa, tief wie von Glencore ge-graben; die Strömung vor der Küste von Galle (ein Ort auf Sri Lanka, nicht zu verwechseln mit Malle), die mich ums Haar aus dem Leben gezogen hätte; oder wie sonderbar klein die Fenster in der Concorde waren (damals, als das Wort «Flugscham» noch nicht im Duden stand und der Begriff «Zukunft» glänzte wie ein Paar frisch gewichster Schuhe); an das Dutzend Shochu auf Eis in einer Bar namens La Jetée in Shinjuku City (und den Morgen danach). Erinnerungen an Selbsterlebtes: All die kleinen Teile, aus denen wir gemacht sind – Partikel von fernen Flecken sind dabei sicherlich nicht abträglich. Zurzeit ist zwar nicht viel mit Reisen, doch wir werden es wieder tun, jede und jeder nach ihrer oder seiner Fasson.

Bis es so weit ist, gibt es ein Surrogat namens GeoGuessr – ein Spiel für Computer und Smartphone. Die Regeln sind simpel: Per Zufallsgenerator wird man via Google Street View irgendwo auf der Welt ausgespuckt – und muss herausfinden, wo man ist, dann möglichst exakt und präzis und genau die Nadel auf der Landkarte setzen. Je näher, desto mehr Punkte gibts. Zeitlimit ist eine Option, ebenso spezifischere Karten.

Also spaziert man umher. Sieht sich um. Sammelt als Geodetektiv*in Hinweise. Auf welcher Strassenseite fahren die Autos? Was erzählt die Flora? Gibt es Wegweiser? Was verraten Beschriftungen auf Lieferwagen? Was sagt die Architektur? Dann und wann muss man weite Wege gehen/klicken/tippen, vielleicht bis zum Siedlungsrand, um ein Ortsschild zu finden. Aber was nutzt es dann, wenn da Manyberries draufsteht? Wo zur Hölle ist Manyberries? Blöd auch, wenn man zum Schluss kommt, dass es sich um einen Ort in Russland handeln muss. Alles zu Lesende auf Kyrillisch, kaum andere Anhaltspunkte – und vor allem: Dieses Land ist gross. Aufs Geratewohl zu tippen kann einem den Punkteschnitt ganz schön verhageln, denn in Medvezhyegorsk sieht es nicht viel anders aus als in Yanrakynnot, aber dazwischen liegen doch 3263,68 Kilometer.

Was GeoGuessr uns lehrt: Die Welt ist fremd. Und die meisten Ecken sind öde und abweisend. Sie scheint wirklich langweilig zu sein, die olle Erde, nicht des Bereisens wert. Trotzdem freue ich mich darauf, ein paar Ecken von ihr wieder mit eigenen Augen zu sehen. Und mit den Ohren zu hören. Und sei es bloss, dass man weggeht, um danach gerne zurückzukehren – als derselbe Mensch, der man zuvor war, bloss müder.

Manyberries liegt in Alberta, Kanada, 85 Kilometer südlich von Medicine Hat, am östlichen Ende des Highway 61. Manyberries hat 3335 Einwohner, ein Hotel, eine Curlinghalle, und der Himmel ist sehr weit

Das Bild zeigt die Adresse Browns Creek Drive, 10 Kilometer ausserhalb von Crossville, Tennessee, eine Stadt, die bekannt ist für die jährlich im August stattfindende Landwirtschaftsmesse Cumberland County Fair

Achtung! GeoGuessr hat Suchtpotenzial. Nicht, dass Sie dann sagen, ich hätte es nicht erwähnt